Faszinierendes Enigma

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Erst vor kurzem habe ich „Intimitäten“ von Katie Kitamura gelesen und war von der Vielschichtigkeit und Komplexität des Romans sehr begeistert. Jetzt ist Kitamuras neuer Roman „Die Probe“ erschienen, den ich sogar als noch komplexer empfunden habe.

Allein der formale Aufbau, der aus zwei unterschiedlichen Teilen und Realitäten besteht, ist interessant und lädt mich zum Identifizieren der Konstanten und der Variablen ein.
Während sich die Protagonistin in „Intimitäten“ intensiv mit den moralischen Aspekten ihres Übersetzerinnenberufs auseinandersetzt, ist die Protagonistin in „Die Probe“ eine Schauspielerin. Auch sie setzt sich intensiv mit verschiedenen Aspekten ihres Berufs auseinander.
Der Beruf der Ich-Erzählerin ist natürlich bewusst so gewählt, denn Kitamura schaut diesmal genau auf die verschiedenen Rollen, die wir in unserem Leben einnehmen und wie wir in diesen Rollen von anderen Menschen wahrgenommen werden.
Dabei können wir öfter feststellen, dass unsere eigenen Vorstellungen von unserem Selbstbild nicht zwangsläufig mit denen übereinstimmen, die andere von uns haben.
Damit konfrontiert zu werden kann schmerzhaft werden.
Kitamura nutzt in den beiden unterschiedlichen Teilen ihres Romans einen festen Katalysator für die Handlung: die rätselhafte Figur des jungen Xavier. Im ersten Teil überrascht er die ältere Ich-Erzählerin mit der Behauptung er wäre ihr Sohn, den sie früher weggeben hätte. Im zweiten Teil des Romans ist er tatsächlich ihr Sohn, der wieder bei ihr und seinem Vater einziehen möchte.
Xavier, die Erzählerin und Tomas, ihr Partner, ergeben zusammen ein Dreieck, das mit komplexen Beziehungsfäden miteinander verbunden ist. Dabei können die Figuren immer nur ihre jeweiligen Beziehung zum anderen erkennen, aber über die Beziehung der beiden anderen zueinander nur spekulieren. Genauso wie ich als Leser*in, die sich im Kopf der Erzählerin befindet.

Auch wenn ich „Die Probe“ jetzt nicht als einen im Kern feministischen Roman sehen würde, baut Kitamura immer wieder auch Aspekte mit ein, die das Verhältnis der Geschlechter diskutieren. Mir fällt in ihren Romanen auf, dass ihre Figuren immer sehr emanzipiert und unabhängig wirkende Frauen sind, die aber diesem Anspruch nicht vollständig gerecht werden. Sie sind mit fehlbaren Männern zusammen, sind in gewisser Weise von ihrer Zuneigung abhängig.
Was mich auch unglaublich fasziniert ist, wie ruhig und rational Kitamura ihre Erzählerin anlegt, was aber eigentlich auch nur die Performance einer Schauspielerin ist. Unter ihrer Oberfläche brodeln die Emotionen.
Das spiegelt sich in Kitamuras Erzählstil wieder, der eigentlich ruhig und beherrscht wirkt, aber eben auch nur, wenn du an der Oberfläche bleibst. Wenn du eintauchst wird es aufregend.


Wahrscheinlich eher nicht aufregend ist der Roman für dich allerdings, wenn du lieber einer stringenten Handlung folgst, die auf einen Höhepunkt oder eine Auflösung zusteuert.
Dann würde ich dir lieber Kitamuras „Intimitäten“ empfehlen, das dieses Schema vielleicht mehr erfüllt.