Im Kopf einer sehr eigensinnigen Persönlichkeit

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Das Buch "Die Probe" von Katie Kitamura ist auf der Longlist des renommierten Booker Prize gelandet. Oft ist das ein Anzeichen für eine lohnende, aber herausfordernde Lektüre, die man nicht so schnell wegliest, sondern die tiefer gehende Beschäftigung von den Leserinnen und Lesern erfordert. So ist es auch hier. Es ist ein kurzes, aber sehr gehaltvolles Buch.

Das Buch besteht aus zwei Teilen, die ähnlich und dann doch wieder ganz unterschiedlich sind. Beide erleben wir ausschließlich aus der Perspektive einer 49-jährigen Schauspielerin. Wir sind als Lesende mit ihr in ihrem Kopf und erleben die Welt so, wie sie sie erlebt. Das ist eine Welt, in der es sehr wichtig ist, wer man ist und wen man darstellt, wie man sich gibt und wie und mit wem man gesehen wird. Ständig ist die Frau damit beschäftigt, zu analysieren, wie andere vermeintlich auf sie reagieren und was sie daraus schließt. Dabei stellt sie ihre eigenen Deutungen kaum in Frage, sondern baut sich daraus ihr sehr eigenes Weltbild zusammen.

Wenn man selbst, so wie ich, charakterlich ganz anders gestrickt ist, kann es faszinierend, aber auch mühsam sein, ein ganzes Buch aus so einer Perspektive zu lesen. Eine Sympathieträgerin war die erwähnte Frau für mich nicht unbedingt, muss sie aber wohl nicht sein. Ich kenne Menschen, die ähnlich ticken wie sie, insofern ist sie durchaus authentisch dargestellt.

Inhaltlich dreht sich das Buch unter anderem um Familienthemen: um einen jungen Mann, der meint, der Sohn der Ich-Erzählerin zu sein und der damit Recht hat oder auch nicht... darum, was dieses Thema mit ihr und anderen Menschen macht und vieles mehr (ohne zu viel verraten zu wollen). das Buch spielt mit den verschiedenen Perspektiven im Kopf der Ich-Erzählerin (und vielleicht auch in ihrem Leben, das weiß man nicht so genau), mit einem Was-wäre-wenn, mit echten oder falschen Erinnerungen und mit so einigem mehr... und lässt dabei bis zum Ende vieles offen.

Auch nach einer umfangreichen Diskussion mit anderen sowie der Analyse einiger Interviews mit der Autorin selbst bleibt vieles in diesem Buch für mich rätselhaft. So ist es vermutlich auch gedacht, das öffnet wiederum für die Lesenden einen breiten Interpretations- und Spiegelungsraum. Wer das mag, kann mit diesem Buch sicher einiges anfangen. Jedenfalls gibt es Stoff zum länger darüber diskutieren und nachsinnen. Wer hingegen Bücher mit zumindest einigermaßen verlässlichen Erzählstimmen und klaren Auflösungen bevorzugt, wird mit dieser Lektüre wohl nicht sehr glücklich werden, oder jedenfalls herausgefordert, die eigene Lesekomfortzone zu erweitern.