Zwingend notwendig

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bücherwurm123 Avatar

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In einer Zeit, in der Geschichten oft laut und grell um Aufmerksamkeit buhlen, gelingt Katie Kitamura mit Die Probe ein stilles Meisterwerk – beinahe unmerklich entfaltet sich ein psychologisches Drama, das so intensiv ist wie ein verschluckter Schrei.
Der Roman erzählt die Geschichte einer Dolmetscherin, die in einem unbenannten Land mit der Aufgabe betraut wird, die Leiche ihres kürzlich verstorbenen, entfremdeten Ehemannes zu identifizieren. Was sich wie die Prämisse eines Kriminalromans liest, ist in Wahrheit ein subtile, tief analytische Erkundung von Identität, Rolle und Wahrnehmung. Kitamura fragt nicht direkt: "Wer bist du?", sondern vielmehr: "Was sehen die anderen in dir – und was davon lässt du zu?"
Was Kitamura hier gelingt, ist bemerkenswert: Sie verwandelt Schweigen in Handlung. Die Leerstelle – jenes oft überlesene Element der Literatur – wird in Die Probe zum Zentrum des Geschehens. Zwischen den Figuren entsteht eine Spannung, die nicht durch Konfrontation, sondern durch das ständige Vermeiden, Andeuten, Umschiffen erzeugt wird. Jeder Dialog ist ein Schattenriss, jede Begegnung ein Spiegel, der mehr verbirgt als zeigt.
Die Ich-Erzählerin bleibt bis zuletzt schwer greifbar – sie ist Projektionsfläche, Vermittlerin, zugleich beteiligt und entzogen. Ihre Rolle ist flüchtig, wie der Geruch eines Raumes nach einem längst vergangenen Streit. Gerade darin liegt Kitamuras große Kunst: Sie erzählt nicht, sie tastet. Der Roman liest sich wie ein literarischer Ultraschall – was sichtbar wird, ist nicht offensichtlich, sondern schwebt unter der Oberfläche.
In einer Szene, scheinbar banal, spricht die Erzählerin mit einem Arzt über die Umstände des Todes. Was folgt, ist kein informativer Austausch, sondern ein unaufhörliches Kreisen um das Nichtgesagte. Die Wahrheit bleibt vage, doch ihr Echo zieht sich durch jede Zeile. So wird die Handlung selbst zur "Probe" – ein Test für die Grenzen der Selbstwahrnehmung und ein Prüfstein der Intimität.
Katie Kitamura hat mit Die Probe einen Roman geschaffen, der leise ist, aber lange nachhallt. Er fordert unsere Aufmerksamkeit, zwingt uns zur gedanklichen Mitbewegung, ohne uns klare Antworten zu liefern. Genau das macht ihn so verstörend – und so notwendig.

Würde ich jemdem empfehlen.