Würdig aufbereiteter Klassiker

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singstar72 Avatar

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Dies ist einer jener Fälle, bei denen das Buch aus mehr besteht als der Summe seiner Teile - sprich, wo es als Gesamtkunstwerk zählt, sozusagen. Dieses Werk wäre sicherlich, wäre es nach heutigen Standards in der heutigen Zeit in einem westlichen Verlag erschienen, eher ein Kuriosum. Doch wenn man alles berücksichtigt, finde ich die (Wieder-) Auflage gelungen, und würdig gestaltet.

Ich befasse mich schon länger mit japanischer Literatur, und habe auch die alten japanischen Krimis für mich entdeckt - die, ganz zu Unrecht, im Westen bisher vernachlässigt wurden. Nur waren diese bisher lediglich in englischer Sprache erhältlich. Umso verdienstvoller der Entschluss der "Blumenbar", einer Abteilung des Aufbau-Verlages, diesen alten japanischen Klassiker erstmals in deutscher Sprache herauszugeben! An dieser Stelle muss ich ausdrücklich die Übersetzerin Ursula Gräfe würdigen. Sie hat es auf großartige Weise geschafft, den alten Sprachduktus, die Atmosphäre, beizubehalten, und dennoch in eine modern lesbare Sprache zu überführen. Immerhin erschien das Original vor gut 80 Jahren!

Im Klappentext werden das Buch und sein Held mit Sherlock Holmes und Agatha Christie verglichen - und das durchaus nicht zu unrecht! Der Ermittler, Kosuke Kindaichi, erinnert in der Tat ein wenig an Hercule Poirot - er ist eher ein Außenseiter, schert sich nicht um Konventionen, ist ein erstaunlich gewiefter Denker, liebt es, seine Mitmenschen zu verblüffen, und besteht auf einer Aufklärung im großen Kreis, einem "Experiment".

Der Autor hat sich in der Tat viel mit klassischen Kriminalromanen beschäftigt, wie man nachlesen kann. Das wird auch im ganzen Buch spürbar. Er hat klassische Vorbilder studiert - die hier und da auch zitiert werden! -, und hat sich in diesem Fall für das "Locked-Room-Mystery" entschieden, also ein vorgeblich "unmögliches Verbrechen". Er gibt dem Ganzen jedoch das typisch japanische Flair, durch das Setting, die Umstände, die Tatwaffe, und natürlich das Motiv, das für mich zu einem der ungewöhnlichsten Mordmotive gehört, von denen ich je gelesen habe. Das konnte so nur in Japan geschehen!

Mir gefällt, wie das Buch aufgebaut ist. Es beginnt eher gemächlich - und auch noch mit einer Rahmenhandlung. Ein Erzähler, ein Autor von Kriminalromanen (!), hat sich von Dorfbewohnern von den Ereignissen erzählen lassen, und hat außerdem die Aufzeichnungen eines Doktor F. studiert. Aus diesen Versatzstücken bastelt er nun die vorliegende Erzählung. (Eine Erzählweise, die wiederum klassisch westlich ist - so ungefähr zur Zeit der viktorianischen Literatur.)

Die Spannung baut sich eher langsam auf, zumal der Ermittler Kindaichi erst ungefähr in der Mitte des Buches hinzugezogen wird. Doch diese lange Einleitung dient eindeutig dem Aufbau der Atmosphäre. Die Familie Ichiyanagi ist schon ungewöhnlich, auch für die damalige Zeit.

Ab dem Eintreffen von Kindaichi geht es stetig voran, die Auflösung ist sozusagen unausweichlich. Auch hier gibt es zwar blutige Spuren, doch keine blutige Atmosphäre! Die Aufklärung erfolgt allein durch Beobachten und Nachdenken. Sehr nett finde ich die eingestreuten mysteriösen Elemente: ein Vagabund mit nur drei Fingern, der im Umfeld der Familie auftaucht, sowie der Klang einer Koto, einer Art japanischer Zither, der in der Nacht ertönt.

Man darf einfach nicht mit heutigen Erwartungen an dieses Buch herangehen. Es ist relativ kurz, bietet aber in diesem gedrängten Rahmen von gerade einmal 200 Seiten eine prägnante Sprache, und intensive Charakter- und Ortsstudien. Sehr viel Wert wird gelegt auf Höflichkeit, Verwandtschaftsbeziehungen, und Anstand, was in Japan ja auch nicht anders zu erwarten war. Zudem ist es der erste Band der in Japan sehr erfolgreichen Reihe um Kosuke Kindaichi - wobei ich sehr hoffe, dass auch diese in Deutschland verlegt werden!

Das Buch ist einfach sehr liebevoll gestaltet worden! Das Umschlagmotiv ist ein wenig altertümlich-sparsam gestaltet, wurde aber von den englischen Ausgaben übernommen. Die Verarbeitung ist hochwertig; auch ein Glossar japanischer Begrifflichkeiten ist enthalten. Ich kann der "Blumenbar" wirklich nur gratulieren, und sage, weiter so!