House of Cards mit einem Spritzer I, Robot

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raeubertochter76 Avatar

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Was mir an dem Roman gut gefallen hat, sind die Grauschattierungen, mit denen sowohl die Figuren als auch die Gesellschaft gezeichnet sind. Niemand ist nur gut oder böse. Der neue Präsident will das volle Potenzial der KI nutzen, um Menschen keiner körperlich schweren Arbeit mehr auszusetzen. Dies ist leider gepaart mit einer ausgeprägten Queerfeindlichkeit. Auf der anderen Seite kämpft die Vizepräsidentin für eine offene Gesellschaft, ist aber aus Angst vor einer möglichen Machtergreifung künstlicher Intelligenz klare Verfechterin menschlicher Arbeit – auch wenn das bedeutet, dass sich die Bevölkerung in den Randgebieten der Union zu Tode schuftet, während sich diese Tätigkeiten leicht durch Roboter ersetzen ließen.
Leider ist mir bei beiden Positionen etwas unklar: Wenn Drohnen noch zum Einsatz kommen dürfen, warum dann nicht auch Roboter für körperlich schwere Arbeit? Hierfür braucht es doch noch nicht einmal künstliche Intelligenz? Und auf der anderen Seite: wie kann ein Fest zu Ehren der Gleichheit aller Menschen zu einer Naturkatastrophe geführt haben? Dazu fehlten mir Hintergrundinformationen und so wirkt das Zukunftsszenario einen Hauch konstruiert. Gleiches gilt für das Regierungs- und Rechtssystem, denn es geht ja um politische Entscheidungsprozesse. Das fand ich besonders schade, weil ich glaube, dass der Autor für sich selbst ein sehr komplexes Universum als Grundlage für den Roman ausgearbeitet hat. Es wurde nur leider (noch?) nicht mit eingearbeitet.
Trotzdem fand ich es spannend zu lesen, ob und wie eine Regierung funktionieren kann, wenn sie aus Koalitionspartner*innen mit derart unterschiedlichen Auffassungen und Weltbildern besteht. Denn dann gilt es ja nicht nur die Opposition, sondern auch die Koalitionspartei im Auge zu behalten. Jede Gruppe hat ihre Verbündete, versucht Allianzen zu schmieden und überschreitet hier und da auch schon mal die Grenze moralischer Vertretbarkeit, um ihre Agenda umzusetzen. Dabei stellt sich immer wieder die Frage: bis wohin rechtfertigt das Ziel die Mittel?
Und genau darin liegt für mich auch die Stärke des Romans, denn es scheint, als würde Eryx Vail mit seiner Geschichte bewusst provozieren und die Lesenden vor allem zum Nachdenken und Diskutieren anregen wollen (Daher habe ich mich auch so über die Leserunde hier mit ihm gefreut).
Die politischen Positionen und Herausforderungen scheinen immer noch die gleichen zu sein wie heute, auch wenn der Plot einige hundert Jahre in der Zukunft spielt. Und die Ähnlichkeit der Figuren mit Personen des aktuellen Politikgeschehens (insbesondere in den USA) sind nicht zu überlesen. Leider geht dadurch etwas die Zukunftsatmosphäre verloren.
Äußerlich sind die Figuren sehr detailreich beschrieben – insgesamt finde ich den Schreibstil sehr bildhaft, fast schon cineastisch. Über die Motive und Hintergrundgeschichten der Charaktere erfahren wir hingegen wenig, aber vielleicht kommt das ja in Teil II.
Nicht verwunderlich, dass es in dem Roman keine wirklichen Sympathieträger*innen gibt, wo es um Politik, Machtspiele und Intrigen geht. Das stört mich aber auch nicht, viel wichtiger finde ich es, dass die Figuren lebensecht rüberkommen.
Was das Tempo und die Actionszenen anbelangt, hatte das Buch eine schöne Balance. Die Geschichte ist fesselnd geschrieben und ich wollte immer wissen, wie es weitergeht.
Ein Kritikpunkt, der aber eher den Verlag betrifft, ist die Gestaltung des Buches. Die Seiten sind sehr dick, was das Buch schwer, starr und damit unhandlich zu lesen macht. Auch die Bindung ist nicht so schön wie ich das von anderen Taschenbüchern kenne (Ich falte Bücher nunmal gern komplett auseinander – wen höre ich jetzt empört aufschreien angesichts der daraus resultierenden Leserillen?). Ein wärmerer Seitenton hätte außerdem das Lesen angenehmer gestaltet.
Fazit: Auch wenn meine Rezension einige Kritikpunkte enthält, so haben diese mein Lesevergnügen nicht beeinträchtigt, da ich vor allem die Denkanstöße mitgenommen habe. Ich warte also gespannt auf die Fortsetzung.