Schwimmen lernen - Von der Weiblichkeit und vom Frausein

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"Wie viele Frauen ist eine Frau?"


Jeden Sommer fährt Claire, eine angesehene Pariser Verhaltensbiologin, mit Ehemann Gilles und Sohn Nicolas in die Bretagne. In diesem Jahr allerdings ist etwas anders: Nicolas nimmt seine Freundin Julie mit, eine junge Frau, hungrig nach dem Leben. Für beide Frauen bedeutet dieser Sommer Aufbruch und Verwirklichung, und Erlösung von der Versteinerung.

Nina George schreibt über ein großes Thema: über die Weiblichkeit in all ihren Facetten, übers Frausein in allen Variationen. Sie wählt hierfür zwei unterschiedliche und doch so ähnliche Frauen aus - Claire, die schon gewordene Frau, Julie, die noch werdende Frau. Doch Claire erkennt sich in Julie, in ihrem Drang nach Leben, Rausch, Sinnlichkeit. Viel zu früh ist Claire Mutter geworden, bereut diese Entscheidung nach wie vor - und liebt ihren Sohn Nicolas doch bedingungslos. Claire findet für jede menschliche Verhaltensweise eine logische, rationale, biologische Erklärung und erteilt somit jedem Absolution - auch und gerade ihrem Ehemann Gilles. Doch unter dieser gefrorenen Schicht aus Ratio schlummern Claires tiefe Verletzungen, ihre Wut und ihre Lebendigkeit. Nach und nach bricht das Eis auf, und dafür sorgt niemand Geringeres als Julie.

Julie wiederum braucht Claire, um das Leben zu wagen. Die Professorin bringt ihr das Schwimmen bei - im tatsächlichen wie auch im metaphorischen Sinne. Julie gelingt es, sich von den Fesseln der Konventionen zu lösen, sich selbst zu finden, und das etliche Jahrzehnte bevor dies auch Claire gelingen konnte. Julie muss nicht erst zur Felsin werden, wie sie Claire bezeichnet, um sich am Ende zu befreien. Durch Claire konnte sie das schon viel früher tun, als freie Frau ins Leben starten.

Nina George berührte mich mit diesem Roman ungemein. Er rüttelte und schüttelte an mir und meinem Innersten: Was will ich wirklich? Wer könnte ich sein, ohne dieses, ohne jenes? Was macht mein Frausein aus? Was macht es nicht aus? Bin ich frei? Das sind wirklich unangenehme Fragen, da sie alles ins Wanken bringen können. Nina George findet für ihre Figuren einen versöhnlichen Ausgang, aber kann es so wirklich im echten Leben passieren? Stehen wir nach solchen Entscheidungen, nach einem solchen Aufbrechen nicht einfach nur vor Trümmern? Ja, Claire und Julie haben das Glück sich zu begegnen, aber wie vielen von uns kann es gelingen, auszubrechen und gleichzeitig aufgefangen zu werden? Der Sturz ins Bodenlose ist sicherlich keine Option.

"Die Schönheit der Nacht" ist außerdem auch sprachlich eine wahre Schönheit. Claires komplexe Gedanken werden zu anschmiegsamen, eindringlichen Sätzen gewoben. Merkwürdig nur, dass alle Charaktere im Buch (außer vielleicht der etwas simpler gestrickte Nicolas) änhlich philosophische und psychoanalytische Gedanken haben und diese auch immer auf ähnliche Art und Weise versprachlichen. Ich erkenne darin den Wunsch der Autorin, ihre Figuren hochkomplexe und tiefgreifende Debatten führen zu lassen, die zwar klug und erkenntnisreich sind, allerdings auch nicht unbedingt für charakterliche Diversität sorgen. Dennoch, dank Claires wachem Auge stehen alle Figuren beinahe fleischlich vor uns und bekommen feste Konturen.

"Die Schönheit der Nacht" überzeugte mich mit der für mich immer hochspannenden Thematik Frausein, verpackt in eine ruhige, atmosphärisch dicht erzählte Geschichte voller sprachlicher Schätze. Und das alles vor der Kulisse der wunderschönen Bretagne, die durch Nina Georges kunstvolle Beschreibungen vor meinem inneren Auge auferstanden ist.