Highlight zum Mitfühlen und Mitfiebern

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»Ich ignorierte das Gefühl, das sich in mir ausbreitete, schluckte meine Wut und mein Sträuben herunter, presste es die Speiseröhre entlang, bis es in meinem Magen angekommen war. Dort bearbeitete es meine Magensäure zu einem kleinen Stein, der liegen blieb, unverdaulich.«

Jella und Yannick, das ist die ganz große Liebe – eigentlich. Beinahe idealistisch möchte sie ihm gefallen, alles richtig machen. Für ihn, mit ihm. Sie schminkt sich, wie er es mag und kleidet sich auch so. Sie ist so, wie er es möchte, darf genau den Raum einnehmen, den er ihr zugesteht – auch in der gemeinsamen Wohnung. Aber diese Wahrheit entblättert sich nur langsam, und erst mit Abstand, körperlich wie räumlich, kommt die Klarheit. Wieder zurück in ihrem Kinderzimmer, denkt sie jetzt darüber nach, wie es so weit hatte kommen können, dass ihre Liebe zerbrach, als Yannick seine Hände um ihren Hals legte – und zudrückte …

»Die schönste Version« ist vielleicht die schmerzvollste Coming-of-Age-Geschichte, die ich jemals gelesen habe. Es geht um kollektive Traumata des Frauwerdens und Frauseins in einem patriarchalen System. Ruth-Maria Thomas schreibt mit großer Leichtigkeit über die Schwere verzerrter Realitäten und den Idealismus der Liebe, die vor allem junge Mädchen kennen. Es sind die Filme und Bücher, die ihnen »Traummänner« versprechen, wenn sie sich nur »richtig verhalten«. Sie sollen leise sein, wenn sie laut sein wollen, schön sein, auch wenn sie sich hässlich fühlen, verfügbar sein, wenn es von ihnen erwartet wird. Egal, was sie wollen, sie haben wachsweich zu sein, formbar, im Sinne des Mannes. »Stell dich nicht so an!« Die Übergriffe beginnen mit Worten und Enden mit Taten. Misogynie und Gewalt sind nicht neu – #MeToo. Doch die Innovation hier liegt in Jellas Blick auf ihre Vergangenheit: welche Entscheidungen – selbst getroffen oder nicht – haben sie geprägt und genau zu diesem Moment mit Yannick, und seinen Händen an ihrem Hals, geführt. Hatte sie Anteil am Geschehen oder hätte es sogar einen alternativen Verlauf geben können? »Kleinigkeiten« kulminieren und trotzdem höre ich meine Freundinnen und mich zu oft über diese alltäglichen Übergriffe lachen. Coping: »Halb so schlimm, ist ja nichts passiert!« – bis dann etwas passiert. Denn jeden dritten Tag muss eine Frau sterben, weil sie eine Frau ist. Jella durchlebt all das, zeigt uns intimste Einblicke in ihr Fühlen und bestimmt schlussendlich »Die schönste Version« des Geschehens, also die Geschichte, die sie sich und anderen erzählen möchte.

Zwischen toxischer Liebe und Freund:innenschaft in der ostdeutschen Provinz der späten Nullerjahre erzählt Ruth-Maria Thomas in ihrem Debüt von den Momenten eines Lebens, die nur in ihrer schönsten Version zu ertragen sind. Atemberaubend intensiv, ein Highlight zum Mitfühlen und Mitfiebern – große Leseempfehlung für dieses Lebensbuch!

Liebe Ruth-Maria, vielen Dank für deine bewegenden Worte. Ich habe das Gefühl, dass Baby-Vicky an ihnen heilen konnte!