Anspruchsvolles literarisches Puzzle
Ausgangspunkt der Geschichte ist ein Leichnam im zugefrorenen Ödwilersee – ein Bild, das programmatisch für das Thema des Verdrängten steht, das unweigerlich zutage treten muss. Clavadetscher verknüpft Schritt für Schritt scheinbar lose Fäden zu einem vielschichtigen Erzählgewebe. Doch nicht alles wird erklärt – manche Reflektionen schienen mir wirr oder phantasmagorisch; manche Fäden bleiben lose. Vielleicht, weil sie es sollen. Vielleicht, weil mir als nicht-schweizerischer Leserin die feineren Bezüge entgangen sind.
Erzählt wird aus der Perspektive zweier ungleicher Männer: Schibig, ein Archivar mit Angststörung, findet durch die Begegnung mit einer rätselhaften alten Frau heraus aus seiner Lähmung. Kern, aufgewachsen in altem Wohlstand und fest verankert in einem rechtslastigen Männerbund, sieht trotz Sehschwäche zunehmend klarer – zu seinem großen Unbehagen.
Eine mythische Ebene durchzieht die Geschichte: eine Legende um einen Drachentöter und als Kontrapunkt die von dem Küfner, der von zwei Drachen gerettet wird, aber danach mit der Menschenwelt nicht mehr zurecht kommt. Dazu gibt es zwei Frauenfiguren, die stark an Hexen erinnern – eine Lichtgestalt namens Rosa, genannt „Die Alte“, und Kerns uralte Mutter, die einen dunklen Schatz bewacht und dem Tod zu trotzen scheint. Diese Motive nutzt die Autorin, um über falsche Duldsamkeit, Mitläufertum und moralische Integrität nachzudenken – und darüber, was einen Helden ausmacht. Immer wieder gibt es Sätze, die man sich herausschreiben und an die Wand hängen möchte.
Mir gefielen auch die häufigen Naturmetaphern, das virtuose Changieren des Romans zwischen belebter und unbelebter Welt. Clavadetscher verdinglicht Menschen und vermenschlicht Dinge und schafft damit eine ganz eigene, fast magische Atmosphäre. Manchmal sind ihre Schilderungen so unmittelbar, dass man zu hören, fühlen und riechen meint. Dann wieder scheinen ihre Figuren entrückt, wie aus großer Distanz gesehen - um infolge in eine starke Nähe und emotionale Dichte umzuschlagen, die man nicht so schnell vergisst. So pendelt der Text zwischen lyrischem Drama und formaler Kälte - große Sprachkunst ohne jede Künstlichkeit.
Der Schweizer Gesellschaft hält die Autorin den Spiegel vor: Ihre historischen Verquickungen mit der Nazi-Ideologie und der Nazi-Administration im Lande und die Vorteile, die besonders die Eliten des Landes bis in die Gegenwart daraus zu ziehen verstanden, verbindet Clavadetscher eindrucksvoll mit aktuellen gesellschaftlichen Fragestellungen. Hier zeigt sich der Bezug zum Titel: So lange es uns selbst gut geht, so lange berühren uns die Schrecken der Anderen nicht. Wegsehen, ignorieren - „Dulden kennt keinen Widerstand. Deswegen ist Dulden die scheinheiligste Form von Verbrechen.“
Fazit: Diese literarisch hochkarätige Mischung aus Legende, Historie und Gegenwartsdrama ist sicher keine ganz mühelose Lektüre, aber in Zeiten der Rechtsdrift relevanter denn je.
Erzählt wird aus der Perspektive zweier ungleicher Männer: Schibig, ein Archivar mit Angststörung, findet durch die Begegnung mit einer rätselhaften alten Frau heraus aus seiner Lähmung. Kern, aufgewachsen in altem Wohlstand und fest verankert in einem rechtslastigen Männerbund, sieht trotz Sehschwäche zunehmend klarer – zu seinem großen Unbehagen.
Eine mythische Ebene durchzieht die Geschichte: eine Legende um einen Drachentöter und als Kontrapunkt die von dem Küfner, der von zwei Drachen gerettet wird, aber danach mit der Menschenwelt nicht mehr zurecht kommt. Dazu gibt es zwei Frauenfiguren, die stark an Hexen erinnern – eine Lichtgestalt namens Rosa, genannt „Die Alte“, und Kerns uralte Mutter, die einen dunklen Schatz bewacht und dem Tod zu trotzen scheint. Diese Motive nutzt die Autorin, um über falsche Duldsamkeit, Mitläufertum und moralische Integrität nachzudenken – und darüber, was einen Helden ausmacht. Immer wieder gibt es Sätze, die man sich herausschreiben und an die Wand hängen möchte.
Mir gefielen auch die häufigen Naturmetaphern, das virtuose Changieren des Romans zwischen belebter und unbelebter Welt. Clavadetscher verdinglicht Menschen und vermenschlicht Dinge und schafft damit eine ganz eigene, fast magische Atmosphäre. Manchmal sind ihre Schilderungen so unmittelbar, dass man zu hören, fühlen und riechen meint. Dann wieder scheinen ihre Figuren entrückt, wie aus großer Distanz gesehen - um infolge in eine starke Nähe und emotionale Dichte umzuschlagen, die man nicht so schnell vergisst. So pendelt der Text zwischen lyrischem Drama und formaler Kälte - große Sprachkunst ohne jede Künstlichkeit.
Der Schweizer Gesellschaft hält die Autorin den Spiegel vor: Ihre historischen Verquickungen mit der Nazi-Ideologie und der Nazi-Administration im Lande und die Vorteile, die besonders die Eliten des Landes bis in die Gegenwart daraus zu ziehen verstanden, verbindet Clavadetscher eindrucksvoll mit aktuellen gesellschaftlichen Fragestellungen. Hier zeigt sich der Bezug zum Titel: So lange es uns selbst gut geht, so lange berühren uns die Schrecken der Anderen nicht. Wegsehen, ignorieren - „Dulden kennt keinen Widerstand. Deswegen ist Dulden die scheinheiligste Form von Verbrechen.“
Fazit: Diese literarisch hochkarätige Mischung aus Legende, Historie und Gegenwartsdrama ist sicher keine ganz mühelose Lektüre, aber in Zeiten der Rechtsdrift relevanter denn je.