Eine literarisch anspruchsvolle Geduldsprobe

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»Ich weiß nicht genau, woran es lag, aber in dieser halben Stunde auf dem See, da hätte ich geschworen, der Tote kommt aus einer anderen Zeit, aus einer anderen Welt. Als sei er ein Mythos, der mir etwas mitteilen will. Oder als sei er ein Scharnier zwischen Vergangenheit und Gegenwart.«

Bisher habe ich mich auf Basis einer Leseprobe nie so sehr verschätzt wie bei »Die Schrecken der anderen«: Während mir das Anlesen richtig Lust auf das Buch gemacht hat, konnte mich die Geschichte bis zur Hälfte so wenig überzeugen, dass ich sie abgebrochen habe. Nachfolgend ein Versuch die Gründe dafür darzulegen.

Martina Clavadetscher, vielfach ausgezeichnete Autorin etwa mit dem Schweizer Buchpreis, hat sich mit »Die Schrecken der anderen« erneut einem komplex verdichteten Setting gewidmet. Ihre Geschichte beginnt mit einem Jungen, der beim Schlittschuhfahren auf eine Leiche im Eis stößt. Hieraus soll sich laut Teaser eine »packende und literarische Spurensuche« ergeben, für die bereits auf den ersten Seiten mehrere Personen eingeführt werden: Kern, reicher Erbe mit Midlife-Crisis, seine dominante, betagte Mutter, den verschrobenen Archivar Schibig und die mysteriöse »Alte« aus dem Wohnwagen. Viel wird angedeutet, wenig auserzählt, während ihre verschiedenen Perspektiven parallel vor sich hin mäandern, inhaltlich aber nur sehr lose miteinander verknüpft scheinen. Statt an Spannung zu gewinnen, verliert die Erzählung sich so in Nebenschauplätzen und Symbolfragmenten, die den Roman ohne klare narrative Linie schlicht überfrachten. Nach 50 Seiten wurde mir klar, dass mich statt packendem Kriminalfall, eine langsame, verschachtelte Familienbeobachtung erwartet. Nach 100 Seiten war ich nur noch genervt, nach 150 Seiten habe ich aufgegeben. Diese Geschichte war mir zu spröde, die Charaktere zu eindimensional. Stilistisch zeigt sich Clavadetschers gewohnt dichter, poetischer Ton, der mich in früheren Werken noch faszinierte. Hier jedoch wirkt er jedoch häufig überambitioniert, manieriert oder prätentiös: Bilder wie »bedrohliche Bergdrachen« oder »Zylinderherren im Gasthof Adler« sollen vielleicht eindrucksvoll erscheinen, wirkten auf mich aber überzogen und unpassend.

Fazit: »Die Schrecken der anderen« bietet auf den ersten Blick eine scheinbar mysteriöse Geschichte, die schwache narrative Struktur und die überfrachtete Figurenführung machen aus der Lektüre aber eher eine literarisch anspruchsvolle Geduldsprobe als einen fesselnden Roman. Für Leser:innen, die (so wie ich) wenig geduldig gegenüber Formexperimenten sind und einen stringenten Plot erwarten, ist dieses Buch vermutlich eher enttäuschend. Wer jedoch Clavadetschers verschachtelten Stil mag und bereit ist, über die symbolreichen Andeutungen zu grübeln, könnte zumindest ein wenig Gewinn daraus ziehen – ob sich dieser Aufwand lohnt, sei aber dahingestellt.