Stilistisch hervorragend!

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Die Schrecken der Anderen von Martina Clavadetscher ist ein Roman, den man sich erarbeiten muss, der aber dafür umso eindringlicher die wichtigen Themen behandelt.
Es geht um ein Dorf in der Schweiz, in dem mehrere Erzählstränge zunächst scheinbar unverbunden nebeneinanderher laufen. Irgendwann wird klar, dass sie sich auf verschiedenen Zeitebenen abspielen und vielleicht doch nicht so unverbunden sind wie gedacht. Spiralförmig nähern sich die Erzählungen immer mehr einem Zentrum, das tiefer und verwobener ist als man es anfangs für möglich gehalten hat. Manche Sachverhalte werden klarer, andere in Frage gestellt und es werden Hypothesen aufgestellt und dann doch wieder verworfen. Ein Roman, der die Lesenden aktiv mit einbezieht, die die Leerstellen im Sinne Isers füllen müssen (in einer Art Metareflexion stellt dies auch eine der Figuren fest) und so unheimlich tief in das Geschehen eintauchen.
Das wird unterstützt durch den Schreibstil der Autorin: der Erzähler tritt oft in den Hintergrund und präsentiert das Geschehen sehr szenisch – ich kann es mir so gut als Film vorstellen! Dazu kommen Tempuswechsel, treibende Endlossätze (die jedoch den Lesefluss keineswegs hindern) und semantische Übertragungen, die Verbindungen herstellen, ohne sie auch nur ansatzweise anzusprechen – überaus gelungen!
Inhaltlich finden sich einige wichtige Themen, aber ich will dazu gar nichts weiter sagen, da diese nicht alle auf den ersten Blick ersichtlich sind und ich hier nichts vorwegnehmen möchte.
Schade, dass im Lektorat ein paar sprachliche Fehler übersehen wurden, aber dem Roman selbst soll dies nicht angelastet werden. Den Verzicht auf Anführungszeichen bei direkter Rede finde ich furchtbar (aber das scheint gerade en vogue zu sein) und es trägt hier auch nichts inhaltlich bei, sodass ich diese Wahl nicht verstehe.
Fazit: Mir hat die Geschichte sehr gefallen, auch wenn es ein bisschen gedauert hat, bis ich drin war. Doch dann hat sich die ganze Arbeit gelohnt! Ein Roman, auf den man sich einlassen muss, der einem aber so viel zurückgibt.
4,5/5