Ein großer Algerienroman

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buecherfan.wit Avatar

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Ich  schätze Yasmina Khadra als Autor schon seit langem und habe einiges von ihm gelesen. Deshalb interessiere ich mich auch ganz besonders für seinen neuesten Roman, der in Frankreich schon berühmt ist und von der Redaktion der Literaturzeitschrift Lire zum Buch des Jahres 2008 ernannt wurde.

Der Roman beginnt mit der Kindheit des 9jährigen Jungen Younes, der mit Vater, Mutter und kleiner Schwester auf dem Land lebt. Die Familie ist hoch verschuldet, obwohl der Vater schwer arbeitet und allein seine Felder bestellt. Die Rettung scheint in Sicht, als eine außerordentlich gute Ernte bevorsteht, die die Familie schuldenfrei gemacht und ihr das Überleben gesichert hätte. Aber es kommt anders:  jemand  legt Feuer und vernichtet die gesamte Ernte. Blitzschnell erscheint der caid - ein hohes Tier, jemand der die Funktionen eines Richters und Steuereintreibers in sich vereint, - und lässt sich durch Daumenabdruck das gesamte Land überschreiben. Younes Familie zieht in die Stadt um, nach Oran. Einem Händler im Dort überlässt Younes Vater Issa das Maultier und den Karren.

In diesen Szenen wird Khadras Anliegen schon sehr deutlich. Während Issa von Gottes Willen spricht, der ihm alles genommen hat, sieht der Händler sehr deutlich, was wirklich dahintersteckt: abgrundtiefe Bosheit und unendliche Habgier. Auch in der Stadt herrschen Armut, Elend und Kriminalität.  Die Misere in den verkommenen Vorstädten ist so groß, dass niemand mehr sicher ist. Khadra zeigt soziale Ungerechtigkeit, Ungleichheit im Kontrast zwischen dem Leben der Reichen - z.B. des gutsituierten Onkels und Bruders - und der Armen, die auch von denen ausgebeutet und betrogen werden, denen es nur wenig besser geht.

Der Romananfang ist ausgesprochen düster, aber das ist bei Khadra nicht ungewöhnlich. In seinem Roman über den algerischen Bürgerkrieg - Die Lämmer des Herrn - beschreibt er unsägliche Grausamkeiten, obwohl er in einem Interview mal gesagt hat, er wolle das falsche Bild von Algerien als eines Landes von Barbaren richtigstellen. Nach der Lektüre fällt dem schockierten Leser nur eins ein: das ist ja barbarisch.  In Die Schwalben von Kabul - ein Roman über das Schreckensregime der Taliban - wird gleich auf den ersten Seiten detailliert die Steinigung einer Frau beschrieben. Die Attentäterin - sein für mich bisher bestes Buch - beschäftigt sich mit dem Kampf der Palästinenser. Ich will damit sagen, dass  die Beschreibung von unvorstellbarem Elend und Gräueltaten  für Khadra nicht untypisch ist und dass sie eine Funktion hat: über Missstände aufklären, Dinge verändern.  Sie ist nicht Selbstzweck. Der vorliegende Roman ist wahrscheinlich insgesamt nicht ganz so düster, weil er nach der Inhaltsangabe auch die Geschichte einer großen Liebe ist. Für mich ist Khadra einer der bedeutendsten französischsprachigen Erzähler, und ich habe große Erwartungen an seinen neuesten Roman.