Ein schrilles, genial-herausforderndes Abenteuer

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bücherhexle Avatar

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Ein buntes Cover, das die Sinne anspringt, freundliche Farben, aber eine Zähne fletschende Grimasse – passender kann man das Cover dieses Romans kaum gestalten. Der Protagonist Maali Almeida ist gewaltsam zu Tode gekommen. An die näheren Umstände erinnert er sich nicht, stattdessen findet er sich in einer skurrilen Dazwischenwelt wieder, in der es vor guten wie bösen Geistern nur so wimmelt (das Namenregister am Ende des Buches ist sehr hilfreich). Diese Welt ist vieldeutig, voller Schatten, Gerüchte und Unsicherheiten – sie wird höchst anschaulich skizziert. Maali war zu Lebzeiten Fotograf und Abenteurer. Er scheute keine Risiken, traute sich auf sämtliche Frontlinien seines von Terror, Hass und Fehden zerschundenen Landes Sri Lanka, wo seit 1983 ein blutiger Bürgerkrieg mit unzähligen Toten tobte. Er fotografierte für verschiedene Auftraggeber eindrucksvolle Bilder, die das Grauen dokumentierten. Dabei schien sich Maali offenbar für keine politische Seite besonders zu erwärmen, auch wenn er als „Mischling“ zur tamilischen Minderheit zählte. Aufgrund seiner Homosexualität lief er ohnehin latent Gefahr, die Repression des Staates zu spüren zu bekommen. Maali war ein Freigeist.

In der Zwischenwelt hat man sieben Monde Zeit, in denen man überprüft, gewogen und vermessen wird. Wer Glück hat, darf am Ende der Prozedur ins Reich des Vergessens weiterreisen. Wer Pech hat, muss bleiben und läuft Gefahr, in den Einflussbereich der wirklich bösen Dämonen zu geraten, die sich von reiner Verzweiflung ernähren. Maali ist viel zu abenteuerlustig, um den leichten Weg zu gehen. Zudem möchte er herausfinden, wer ihn umgebracht hat. Und dann sind da auch noch seine Fotos im Geheimversteck, die Beweise für geschehenes, politisch initiiertes Unrecht liefern. Soll denn von seiner Arbeit, seinem Leben wirklich nichts zurückbleiben? Maali begibt sich auf die Suche. Wie bereits zu Lebzeiten kooperiert er mit der Halbwelt, deren Regeln es ihm zu bestimmten Konditionen möglich machen, durch die Lüfte zu den Orten getragen zu werden, an denen er bereits gewesen ist. Er muss nur seinen Namen erlauschen und dem Laut folgen. Auf diese Art und Weise trifft er seine Freunde, Kollegen und Familienmitglieder wieder. Dabei erfährt er manche Neuigkeit, manche Überraschung. Selbstverständlich darf er sich nicht zu erkennen geben, er ist für die Lebenden unsichtbar. Dadurch wird seine Mission sehr erschwert, fast unmöglich. Es gilt Hindernisse zu überwinden, Kompromisse zu schließen und Gefahren auch für die Lebenden zu parieren. Dabei lernen wir lernen Maali in all seiner Komplexität immer besser kennen.

Die Lösung zu den offenen Fragen gleicht einem komplizierten Puzzle.
Dieser Roman ist etwas Besonderes. Man kann ihn kaum in Worte fassen. Erzählt wird in einer eigenartigen „Du“-Perspektive, die teilweise als besseres Maali-Ich auftritt, teilweise aber auch als allwissender Erzähler rüberkommt. Die zahlreichen Namen und Figuren können zu Beginn verwirrend wirken. Relativ schnell bekommt man einen Eindruck von der Brutalität des Bürgerkrieges. Es wird gefoltert, gemordet, gemeuchelt, bis zur Unkenntlichkeit zerstückelt und verscharrt. Es gibt nicht nur Tote, sondern auch unzählige Vermisste, die nie wieder auftauchen. Die am Krieg beteiligten Parteien (die erfreulich auf Seite 42/43 erklärt werden) gehen mit äußerster Rücksichtslosigkeit zur Sache, ein Menschenleben gilt nichts. All diese Fakten kann man nur durch die außergewöhnliche Perspektive, durch die Distanz der Zwischenwelt ertragen, in der sich übrigens auch Geister bewegen, die es in der Realität wirklich gegeben hat, bevor sie in den 1980er Jahren gewaltsam zu Tode kamen. Maali wird allmählich vom Beobachter zum Akteur. War er zu Lebzeiten alles andere als ein sympathischer Zeitgenosse, geht nach und nach ein Wandel mit ihm vonstatten.

Dieser Roman ist wie ein Sturm, von dem man sich mitreißen lassen sollte. Zugegeben, macht er es dem Leser nicht immer leicht, das bunte bildreiche Figurenkarussell zu sortieren, einzuordnen, wer zu den Guten oder zu den Bösen gehört. Die Sprache ist salopp, jugendlich keck, manchmal vulgär und respektlos, schließlich spricht der Protagonist selbst. Er ist der Filter, durch den wir alles beobachten und wahrnehmen. Zahlreiche spritzige Dialoge durchziehen den Text. Maali hat viele Facetten. Er hadert mit seinem Glauben, mit den Göttern. Er flucht und schimpft. Als Lebender bewegte er sich überwiegend in einem windigen Milieu aus Heuchlern, Opportunisten und Scheinheiligen – so scheint es zumindest. Maali ist ein wahrer Anti-Held, der mitunter aber auch über große Fragen nachdenkt, philosophiert und gedankenschwere Weisheiten zum Besten gibt. Wie es dem Autor gelingt, dass wir dieser schrägen Figur in ihrem grotesken Umfeld mit Interesse folgen, zeigt großes schriftstellerisches Können. Zum Ende hin gewinnt die Geschichte an Fahrt und ihren Ausgang möchte ich als regelrecht bravourös bezeichnen.

Der Roman ist für den europäischen Leser gewiss eine Herausforderung. Die Wiedergeburt, die Geister-, Mythen- und Aberglauben der asiatischen Religionen sind uns weitgehend fremd. Man muss sich deshalb auf diesen Roman einlassen. Leicht kann man sich angesichts der vielfältigen Charaktere, des Surrealen und der eigenwilligen Schauplätze überfordert fühlen. Mut zur Lücke!, möchte ich jedem raten. Auf höchst unterhaltsame Weise wird einem der Horizont erweitert, man lernt etwas über eine fremde Kultur und einen grausamen Krieg, der sich leider an anderen Stellen nur mit leichten Nuancen immer aufs Neue wiederholt. Insofern bleibt der Roman bestechend aktuell und erhielt höchst verdient den Bookerpreis 2022.

Große Lese-Empfehlung!