tolle Lektüre

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„Die Sommer mit Lulu“ von Peter Nichols ist ein sehr gut gelungenes literarisches Werk, das Geschichten zweier Liebenden und ihrer Kinder vor Kulisse Mallorcas erzählt. Ein unvergessliches Leseerlebnis, prima Unterhaltung für aufmerksame Leser, die zum Nachdenken einlädt und ein nahhaltiges Urlaubsfeeling schenkt.

Der Roman ist in mehrere Abschnitte gegliedert, jeder erzählt Geschichten aus der zuvor liegenden Zeit: 2005 Wieder vereint; 1995 Golden Oldies; 1983 Karussell; 1970 Die Phönizier; 1966 Perfida; 1956 Die Wellen; 1951 Der Weg nach Ithaka; August 1948; August 1948 Eine Woche zuvor Zyklopen; Die Fahrt der Sterblichen; 2005 Alte Fotos; 2005 Wieder vereint.

Der erste und der letzte Abschnitt „2005 Wieder vereint“ bestehen aus je einem recht kurzen Kapitel, die sich aber auf zwei unterschiedliche Paare beziehen. Zuerst liest man das Ende von Lulu und Gerald, das viele Fragen aufwirft, in etwa, wie es dazu kommen konnte? Was hat aus zwei jungen Liebenden im paradiesischen Mallorca zwei alte, kranke Menschen gemacht? Warum hasst Lulu ihren Ex so sehr? Zum Schluss des Romans geht es aber um Aegina und Luc, die ganz anders miteinander umgehen.

Weitere Abschnitte haben meist mehrere Kapitel und erzählen die Geschichten aus dem Leben der Engländer auf Mallorca. Jeder Abschnitt hat seine Schwerpunkte, z.B. „1983 Karussell“ erzählt u.a. wie das Land auf der Insel nach und nach in die Hände ausländischer Investoren geriet, wie es noch weiter untereinander geschachert wurde, etc. Auch Mutter-Sohn und Mann-Frau Beziehungen werden bildhaft, psychologisch tief und gekonnt dargeboten. Lucs Verehrung gegenüber seiner Mutter wird deutlich, Lulus Charakterstärke und Durchsetzungsfähigkeit retten ihrem Sohn das Leben. Der Gespann Luc – Aegina, Kinder von Lulu und Gerald aus ihren zweiten Ehen, bekommt mehr Konturen und man erhält die ersten Gründe, warum die beiden nicht zusammenkommen.

Was Lulu und Gerald passiert war und wie es zum Bruch kam, erfährt man zum Schluss. Bis dahin wird ein Bogen gespannt, der aus Themen Liebe, Familie, Freundschaft, Künstlerleben uvm. besteht. Man lebt quasi mit den Gästen im Strandhotel auf den Klippen, den Lulu leitet. Lulu ist eine bemerkenswerte Frau. Sie ist keineswegs darauf angelegt, auf die Leser sympathisch zu wirken, in etwa wie Protagonistinnen eines Frauenromans. Lulu hat ihre Prinzipien und hält sich eisern daran. Sie holt sich vom Leben das, was sie will, ohne Rücksicht auf Verluste. Aber sie ist auch eine attraktive Frau und gute Gastgeberin, sie ist bei ihren Gästen, die jedes Jahr für mehrere Wochen in ihr Hotel kommen, sehr beliebt.

Es gibt auch einen Ausflug von etwa zwanzigjährigen Aegina und Luc in 1970 nach Marrakesch. Hippie-Zeit und Drogenkuriere sind an der Tagesordnung, aber auch weitere Entwicklung in der Aegina-Luc Beziehung und weitere Gründe, warum sie nicht zusammenkommen. Das Kopfkino ist sofort da. Man besucht mit den beiden eine seltsame Nähfabrik in einem weiterentfernten Viertel von Marrakesch, spaziert durch die bunten Basare mit ihren orientalischen Gerüchen, Stimmengewirr, etc.

Man erhält Einsicht in die Gefühlswelt und Gedanken der Figuren. So erlebt man das Erwachsen werden von Luc und Aegina, die schöne Zeit von Lulu und Gerald, uvm. Entsprechend oft werden die Perspektiven gewechselt, aber es ist für diese Art von Geschichte völlig i.O. Die Prise Melancholie, die diesem damaligen, paradise-ähnlichen Mallorca, den guten alten Zeiten gilt, schwingt dabei immer mit.

Der Roman hat eine Art Sog, der sich nach hundertfünfzig- zweihundert Seiten einstellt. Manchmal war der Stoff so intensiv, dass ich das Buch paar Tage liegenlassen musste, um dann aber umso gespannter weiterzulesen. Das schwierige Thema der Sterbehilfe ist auch dabei, sehr gut dargelegt. Genauso wie die Vater-Tochter Beziehung, uvm. „Mein wunderschönes kleines Mädchen. Er vermisste all die Kinder, die sie früher einmal gewesen war - das achtzehn Monate alte Baby, die Dreijährige, die Fünfjährige, wie klein sie damals gewesen war, wie sie mit ihrem ganzen Gewicht an seiner Schulter gelegen hatte, während sie schlief -, und er konnte diesen schmerzlichen Verlust nur deshalb ertragen, weil sie im Verlauf der Zeit zu etwas heranwuchs, was noch viel kostbarer und außergewöhnlicher war und zu einem noch viel unverzichtbarem Teil von ihm wurde.“ S. 369-370. Von schönen Stellen gibt es schon ein paar, u.a. bei Meer- und Naturbeschreibungen.

Manche Repliken sind auf Spanisch, es ist also von Vorteil, wenn man Grundvokabular und gängige Floskeln kann.

Die Schrift ist nicht besonders groß. Dafür gibt es mehr Text auf der Seite.

Das Werk lädt zum Nachdenken ein und wirft weitere Fragen auf, i.e. es hallt nach, man beschäftigt sich damit auch noch Tage nachdem die letzten Seiten umgeblättert wurden. Man fragt sich, was diese Figuren und ihre Geschichten uns zu vermitteln vermochten? In etwa: Wäre man versöhnlicher, weniger jähzornig und stur, würde man auch ein ganz anderes Leben führen und erst recht nicht so sterben müssen? Mit anderen Worten, dass man das Leben bekommt, was man kraft seines Charakters verdient. Oder ist es, dass die Kinder am Konflikt der Eltern so lange leiden, bis dieser wie auch immer gelöst wird? Oder ist es, dass man sich sein Leben lang von Dingen leiten lässt, die völlig unwichtig sind und einen daran hindern, glücklich zu sein?

Auch dass diese Geschichte zeitlich rückwärts erzählt wurde, verleiht ihr eine besondere Würze: Man steigt immer tiefer in die Hintergründe, geht zurück zu den Wurzeln, zu den Ursprüngen der Situation, die man am Anfang zu lesen bekam. Man versteht immer mehr, warum die Leben der Figuren so verlaufen sind und nicht anders. Der Roman ist prima durchkomponiert, stimmig, atmosphärisch, mit feinem Gefühl für menschliche Beziehungen und Psychologie. Kein Wunder, dass die Versuche, den Roman mit dem Genres-Regelwerk zu begreifen und mit eben solchen Maßstäben zu bewerten, kläglich versagen. Der Roman bietet und fordert viel mehr.

Was mein Lesevergnügen etwas gemindert hat: Mancherorts gab es unnötige Wortwiederholungen, hier und dort fehlten die Absätze. Die Liebesszenen hätten ruhig weniger detailliert ausfallen können. Das Prinzip „sex sells“ wurde hier bis zum Anschlag ausgereizt.

Fazit: „Die Sommer mit Lulu“ ist erfrischend einzigartig, passt in keine Schublade, lässt einen mit einem unvergesslichen Leseerlebnis bereichert und unglaublichem Urlaubsfeeling zurück. Ich vergebe 5 Sterne und eine Leseempfehlung für die Liebhaber der guten, psychologisch tiefen, spannenden Literatur.