Aufwühlend! Brandmale fürs Leben!

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thirteentwoseven Avatar

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Nach Klappentext und Inhaltsangabe glaubte ich, dass Ronya Othmann über ein Leben zwischen Kulturen schreibt. Über die junge Leyla, die eine deutsche Mutter hat und einen kurdischen, ezidischen Vater und zwischen diesen Welten wandelt.
Ich habe mich geirrt. Gründlich geirrt. Othmann lässt Kultur, Famile und Schicksal des Vaters Leylas Leben völlig dominieren. Deutschland und die Deutschen spielen eine untergeordnete Rolle. Die Sommer in Syrien sind auch keine Episoden, für Leyla bedeuten sie das Leben. Die kindliche, tiefe Liebe zu den Verwandten, zu der Großmutter, zu der kargen, schönen Landschaft brennen sich in ihre junge Seele genauso wie die tiefen Wunden der über Generationen dauernden Verfolgung und Vernichtung ihres Volkes.

Das Buch ist aufwühlend, erschütternd, lehrreich und zugleich erschreckend.

Aufwühlend und erschütternd ist das unsägliche Leid der verfolgten und geschundenen, kurdischen Minderheit. Die Greueltaten im syrischen Bürgerkrieg. Die Folterungen des Vaters.

Lehrreich sind die Episoden über die geschichtlichtlichen und religiösen Wurzeln, Traditionen und Ereignisse in und um Kurdistan und Syrien. Wieder einmal wird hier gezeigt, wie die Aufteilung von Land am Reißbrett jahrhundertelanges Leid und Krieg über die willkürlich aufgeteilten Völker gebracht hat. Sehr überraschend finde ich, dass die Entstehung der Welt in der ezidischen Religion sich fast anhört, wie eine Geschichte über den Urknall. Dazu müsste man wirklich einmal tiefer forschen.

Erschreckend finde ich hingegen, dass sich für Leyla trotz ihres Lebens in Deutschland in dem Buch keine neue unbelastete Perspektive eröffnet. Der Vater, das Schicksal, die Kriegsbilder haben in ihr die Samen desSchmerzes und auch des Hasses gesäat. Dieser unbändige Schmerz bricht ab und zu unter der tiefen, stillen Oberfläche hervor. Er richtet sich gegen die verständnislose Lehrerin, die Beamten des Migrationsamtes, die Leyla am liebsten mit einer Kalaschnikov niedermähen möchte, weil sie den Verwandten die Einreise verweigern. Trotz Bürgerkrieg, trotz Verfolgung, trotz schlimmster Todesangst. Es ist nicht ausgelebter, gedanklicher Hass und bitterster Schmerz, der sich aus grenzenloser Liebe zur Familie und dem eigenen Volk nährt, sich aber in seiner unbändigen Wut gegen die Falschen richtet. Die junge, so verletzliche Seele will die geliebten Menschen schützen und alles für sie tun. Doch das Leid und den Schmerz in Lyla kann man in Deutschland nicht nachvollziehen.

Besonders der letzte Teil des Buches hat mich sehr berührt, in dem Leyla sich zur Frau entwickelt. In der Mitte des Buches gab es hingegen Längen und Wiederholungen. Erfrischend waren hier und später die Perspektivwechsel von Leyla zum Vater, zur Großmutter, zu einem Betroffenen. Ich musste zum Teil sogar überlegen, wessen Gedanken und Erlebnisse werden jetzt geäußert. Das hat den zuerst langen und relativ ereignislosen Sommern etwas Pepp gebracht.

Insgesamt hat mich der Schreibstil von Othmann gepackt. Auch die Geschichte. Eine Geschichte, die keine Integrationsgeschichte ist, keine Happyendkuschelstory. Eine Geschichte, die Verständnis, aber auch tiefes Unbehagen über die tiefen Gräben zwischen Menschen und Völkern weckt. Ich finde sie sehr lesenswert. Nur wer zuhört, kann den anderen verstehen und erreichen.