Beeindruckendes Debüt über die Folgen von Gewalt und Unterdrückung

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corsicana Avatar

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"Eine Geschichte, dachte sie, erzählt man immer vom Ende her. Auch wenn man mit dem Anfang beginnt".

Und so geht auch Ronya Othman in ihrem Debütroman "Die Sommer" vor - auch wenn man das als Leser zunächst nicht so richtig merkt. Die Erzählweise passt zum Haupthandlungsort der Geschichte. Der liegt in Nordsyrien, kurz vor der Grenze zur Türkei. Eigentlich ist das Kurdistan - aber dieses Land gibt es offiziell nicht. Das Volk der Kurden verteilt sich inzwischen - bedingt durch zahllose Kriege und Auseinandersetzungen - auf die Türkei, Syrien, den Irak und den Iran. Und überall sind die Kurden eine Minderheit, die mal mehr und mal weniger benachteiligt und verfolgt wird. Meist mehr.

So ist es auch bei der Familie von Leyla gewesen, der Protagonistin in diesem Buch. Sie verbringt die Sommer ihrer Kindheit in einem kleinen Dorf in Nordsyrien bei der Familie ihres Vaters. Diese sind ezidische Kurden, also keine Muslime - und daher noch mehr Außenseiter in der arabischen Welt als sowieso schon als Kurden. Der Vater lebt schon lange in Deutschland, da er in Syrien als Kurde nicht studieren durfte. Er hat eine Deutsche geheiratet, Leylas Mutter. Leyla ist die meiste Zeit des Jahres Deutsche, wohnt in München, geht dort zur Schule, hat deutsche Freunde. Nur an den Anfeindungen von türkischen Mitschülern merkt sie, dass Kurden nicht gerne gesehen sind. Die Sommerferien verbringt sie mit ihren Eltern im Dorf ihrer Großeltern. Lange heiße Tage, die sie im Garten oder im Dorf verbringt, Nächte untern Sternenhimmel (denn nachts wird im Sommer draußen geschlafen), immer viele Nachbarn und Familienmitglieder, die vorbeikommen und Tee trinken. Wenn von diesen Sommern erzählt wird, ist die Sprache wunderschön. Als Leser fühlt man die Hitze, den Staub - aber auch die doch so andere Welt, die für Mädchen nur die Ehe vorsieht und keine anderen Chancen. Dieser Teil des Buches wird in einem orientalisch angehauchten Stil erzählt, sprich: Die Autorin kommt vom Hölzchen aufs Stöckchen, die eine Geschichte bedingt eine andere Geschichte, es gibt Rückblenden und Vorschauen und die Geschichte der jesidischen Kurden wird wie nebenbei eindrucksvoll eingebunden erzählt. Es gibt trotzdem Kapitel, die ein wenig die Chronologie vorantreiben - aber eigentlich wird wenig chronologisch erzählt. Das ist für den Leser sicher gewöhnungsbedürftig - aber auch wunderbar zu lesen, sobald man sich eingefunden hat. Die Autorin kann wunderbar schreiben.

Der zweite (kürzere) Teil des Romans wird dann chronologisch erzählt und ist wirklich sehr heftig, tragisch und erschütternd. Wie sich schon im ersten Teil andeutet, kommt (noch mehr) Unheil. Die Revolution in Syrien, Verfolgung und Genozid und schließlich der Krieg - der auch in Deutschland viel Raum in den Medien einnimmt - alleine wegen der vielen Flüchtlinge. Auch Leylas Verwandte werden versuchen zu fliehen. Und - genauso wie der Vater von Leyla - nie richtig ankommen. Zu sehr belasten Unterdrückung, der Verlust der Heimat und das Gefühl, auch in Deutschland wieder nicht anerkannt zu werden und "auf dem Bau, oder, wenn sie vorangekommen waren, in eigenen Dönerbuden" zu arbeiten.
Und auch Leyla wird zerrissen sein zwischen ihrem deutschen Leben mit Abitur, Studium, erster Liebe und den Sorgen um die Familie.

Gerade der letzte Teil war schwer auszuhalten - weil es leider eine zu wahre Geschichte ist, die sich täglich millionenfach auf der Welt ereignet. Diktatur und Unterdrückung führen zu Gewalt und auch durch Flucht kann man dies nicht vollständig hinter sich lassen. Die Geschichte eine Volkes wirkt sich auf die Nachfahren aus - egal, wo sie auch später leben.

Dies ist ein wichtiges Buch. Und ein wunderschön geschriebenes Buch. Auch wenn es zwar viele kleine schöne Geschichten - in erster Linie aber eine große traurige Geschichte erzählt.