Eine Geschichte so vielschichtig wie das Leben selbst

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„Leylas Erinnern begann […] mit den Massakern, den Bombardierungen, der Zerstörung, begleitete die Zerstörung, folgte auf sie.
Nach jedem Schock kam Trauer, um gleich darauf vom nächsten Schock wieder fortgespült zu werden. Alles nahm kein Ende.“
Seite 72

Leyla ist Deutsche. Und ezidische Kurdin. Als Tochter einer Deutschen und eines Kurden wächst Leyla in zwei verschiedenen Kulturen auf: Die meiste Zeit des Jahres geht sie in München auf eine deutsche Schule, doch in den Sommerferien reist sie mit ihren Eltern in eine andere Welt – in das kleine Dorf der Familie im Norden Syriens an der Grenze zur Türkei. Wir lernen Leyla kennen, da ist sie noch ein kleines Mädchen, das mit vier Jahren zum ersten Mal in ein Flugzeug steigt. Sie nimmt uns mit auf ihre Reisen und gewährt uns einen exklusiven Einblick in das Dorf, in dem ihre Großeltern, ihre Onkel und Tanten, ihre Cousins und Cousinen leben. Wir bestaunen den überwältigenden Sternenhimmel klarer syrischer Nächte und schauen Leyla mit einem Schmunzeln dabei zu, wie sie die Hühner der Großeltern wieder einfängt. Wir sitzen mit den Nachbarn beim Tee und fühlen uns heimisch in der Gastfreundlichkeit der Familie – mit jedem Sommer ein wenig mehr.

Bis es irgendwann keine Sommer mehr gibt. Leyla hat gerade erst ihr Abitur bestanden, als in Syrien der Bürgerkrieg ausbricht und den idyllischen Sommern bei den Großeltern ein jähes Ende setzt.

Mit ausdrucksstarker Sprache zeichnet die Autorin ein lebendiges und authentisches Bild von einer starken Protagonistin und ihrer inneren Zerrissenheit zwischen zwei grundverschiedenen Kulturen. Mit wortgewaltiger Wucht transportiert sie Leylas Gefühle der Schuld angesichts ihres deutschen Wohlstands im Kontrast zur Not der in Syrien vom Völkermord bedrohten Familie. Gemeinsam mit Leyla ertragen wir Leserinnen und Leser das beklemmende Gefühl, den Erwartungen beider Kulturen nie genügen zu können. Wir verstehen, wie es ist, in Syrien nie ezidisch genug und in Deutschland nicht Deutsch genug zu sein. Wir halten die Vorwürfe des Vaters aus, der Leylas schulisches Engagement stets als ungenügend bewertet und selbst alles für ihre Möglichkeiten gegeben hätte. Leylas frustrierendes Leben in „zwei Heimaten“ illustriert dieses Zitat besonders eindringlich:

„Als ob ihr deutscher Garten nur eine billige Kopie des Paradieses sei, dachte Leyla, ihre Tomaten nur ein Ersatz für die eigentlichen Tomaten, ihr Brot nur ein Ersatz für das eigentliche Brot. Und ihr Leben, dachte Leyla, nur ein Ersatzleben für das Leben, das sie eigentlich hätten leben können.“ (Seite 148)

Die von der Autorin beschriebenen Eindrücke aus dem nordsyrischen Dorf sind voller Farbe; wie ein Film zogen sie an mir vorbei bis ich das Gefühl hatte, wirklich da gewesen zu sein. Ebenso spürbar verloren diese Bilder schließlich mehr und mehr an Farbe bis die Dorfbewohner im Tosen eines gewaltigen Krieges zusehends in staubigem Grau verschwanden. Ronya Othmann hat mich beeindruckt mit ihrer Fähigkeit, allein durch Sprache ein syrisches Dorf in mein deutsches Wohnzimmer zu projizieren.

„Zu gehen ist in erster Linie eine Abfolge von Schritten.“ (Seite 285) Mit diesen Worten beginnt die Flucht von Leylas Vater nach Deutschland und mit diesen Worten endet auch Leylas Geschichte, die irgendwie auch die Geschichte einer Flucht ist. Ihre Erzählung ist die einer Flucht, die kein Ankommen kennt. Sie ist so vielschichtig und differenziert wie das Leben selbst.