Intensiv und eindrucksvoll!

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susanne probst Avatar

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Gleich vorneweg:
„Die Sommer“ ist für mich ein Highlight.
Es ist ein ergreifendes, den Horizont erweiterndes und unterhaltsames Werk.

Leyla hat eine deutsche Mutter und ihr Vater ist jesidischer Kurde.

Über das Jahr hinweg lebt sie bei ihren Eltern in München, wo sie in einem Gymnasium die Schulbank drückt.

„Die Sommer“ ihrer Kindheit und Jugend verbringt sie bei ihren Verwandten väterlicherseits in einem abgeschiedenen jesidischen Dorf im syrisch-türkischen Grenzgebiet.

Leyla lebt ZWISCHEN bzw. IN zwei Welten und Kulturen.

Egal, wo Leyla gerade ist,
räumlich ist sie weit entfernt vom jeweils anderen vertrauten Ort, emotional ist sie jedoch immer sowohl hier als auch dort.
Es ist ein gefühlsmäßiger Spagat, dem Leyla ausgesetzt ist.

Das Nebeneinander von Sorglosigkeit und Sicherheit auf der einen Seite und Angst vor Vertreibung und tödlicher Gefahr auf der anderen Seite, ist verstörend und beunruhigend.

Einerseits lebt sie mit ihren unbeschwerten, unbefangenen und ahnungslosen deutschen Freunden zusammen und andererseits liest sie über das vom syrischen Präsidenten Assad vernichtete Aleppo, über die vom IS ermordeten Jesiden und erlebt in ihren Ferien hautnah mit, dass die Bewohner des Dorfes auf gepackten Koffern sitzen, weil sie immer wieder flüchten müssen, bzw. Angst haben, vertrieben zu werden.

Es ist äußerst interessant, in die Familiengeschichte einzutauchen, Leyla kennenzulernen und mehr über den Alltag in diesem gefährlichen Gebiet und über die politischen Gegebenheiten und Hintergründe zu erfahren.

Leylas Vater flüchtete vor Jahren unter dramatischen Umständen nach Deutschland und heiratete dort eine schwäbische Krankenschwester.
Zusammen mit der gemeinsamen Tochter Leyla verbringt das Paar die Sommer in Vaters Heimat.

Leyla gelingt es, aus diesen heißen und eintönigen Wochen und diesem einfachen Leben das Beste zu machen. Und nicht nur das! Sie empfindet das Dorf und die Verwandten zunehmend als zweite Heimat.

Zu lesen, wie Leyla es anstellt, sich in diesem ganz anderen Alltag wohl zu fühlen und wie ihre rast- und ruhelose Großmutter sie unter ihre Fittiche nimmt, um ihr vom Kochen bis zum Beten alles Wesentliche beizubringen, ist ein Genuss!

Leyla hilft im Haushalt und auf dem Hof und verbringt Zeit mit ihrer Cousine Zozan.

Die Autorin erschuf beeindruckende Charaktere und überrascht mit starken Dialogen.
Sie beschreibt die Handlungsorte und Personen so bildhaft, dass man meint, selbst unter dem nächtlichen Sternenhimmel zu sitzen oder die flirrende Tageshitze zu spüren, vor der man hinter den Mauern der Häuser Schutz sucht.

Mit den Jahren entsteht und wächst in Leyla eine innere Ambivalenz.
Die gefühlte und erlebte Diskrepanz zwischen der archaischen und traditionellen syrischen Welt und der modernen und strukturierten deutschen Welt löst nachvollziehbar innere Spannungen und Gefühle von Zerrissenheit aus.
Und dabei geht es nicht nur darum, dass die syrische Großmutter sie bald unter die Haube bringen will, sie selbst aber lesen, einen Beruf erlernen oder studieren will.

Fragen nach Heimat, Zugehörigkeit und Identität drängen sich ihr auf. Fragen, mit denen sie sich allein gelassen fühlt.

Die 1993 geborene Ronya Othmann hat mit „Die Sommer“ einen ergreifenden und hochaktuellen Debutroman geschrieben, der dem interessierten Leser die Augen öffnet.

In abwechselnd wütendem, wuchtigem, melancholischem und zartem Ton erzählt sie gekonnt und souverän eine gleichermaßen erschütternde und wunderschöne jesidisch-kurdisch-deutsche Familiengeschichte vor dem Hintergrund von politischen Unruhen, Krieg, Zerrissenheit und Zerstörung.
Sie schreibt feinfühlig über Herkunft und Heimat, driftet dabei aber nie ins Kitschige oder Rührselige ab.

Im Gegenteil: Sie schreibt klar und schnörkellos, bringt auf den Punkt, was sie sagen will.
Sie beschreibt und erzählt. Sie wird niemals belehrend oder wertend.

Ich empfehle diesen intensiven und eindrucksvollen Roman sehr gerne weiter. Er erlaubt einen Blick über den Horizont und lässt den Leser in eine fremde Welt eintauchen.
Man erhält tiefe Einblicke und gewinnt neue Einsichten.

„Die Sommer“ ist eine Geschichte, die nachdenklich stimmt, nachhallt und bestens unterhält.