Zwei Dörfer, zwei Familien, zwei Kulturen - und dazwischen ein Mädchen

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romy_abroad Avatar

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Solange sie sich erinnern kann, fährt Leyla jeden Sommer in das Dorf. Dort besucht sie die Familie ihres Vaters, hilft auf dem Hof, verbessert ihr Kurdisch und erzählt aus Deutschland. Von ihrer Mama, die typisch deutsch alles Praktische liebt. Von ihrer Schule, dem großen Gebäude mit Tafeln, Stiften, Heften. Und von den Geschäften, aus denen sie jedes Jahr Mixer und Mikrowellen, Babynahrung und Medikamente, Spielzeug und Bilderbücher mitbringen. Im Dorf gibt es viele dieser Dinge nicht: Leylas Großmutter lebt mit ihrer Familie in einer simplen Hütte aus Lehm, draußen laufen die Hühner über den Hof, im Garten wachsen Tomaten, Oliven, Orangen- und Zitronenbäume, Knoblauch, Wassermeleonen und noch vieles mehr. Gekocht und gebacken wir mit offenem Feuer, alle laufen barfuss herum und kleiden sich einfach und traditionell. Das Leben im Dorf ist also ganz anders als Leyla es aus Deutschland kennt, und trotzdem liebt sie die Sommer dort. Sie liebt den Staub auf ihren nackten Füßen, die freie Zeit mit den Cousinen und Cousins, das Tee Trinken mit den Erwachsenen und den Geschmack der Tomaten, die in Deutschland einfach nur nach Wasser schmecken. Doch die Sommer sind auch immer von einem gewissen Unwohlsein geprägt: Jede Einreise nach Syrien ist ein Drahtseilakt, jedes Mal fürchtet der Vater, dass sein Pass nicht akzeptiert wird. Wird Leyla nach ihren Sommerferien gefragt, erzählt sie, dass sie ihre Großeltern besucht - nie solle sie sagen dass sie nach Kurdistan geht, das hat ihr der Vater eingeprägt. Also erzählt Leyla von Reisen nach Syrien zu den Großeltern, und doch sprechen im Dorf alle von kurdischen Traditionen und kurdischer Geschichte - Leyla versteht nur nach und nach, warum dies so ist. Und je mehr sie versteht, desto mehr Angst hat sie, desto mehr Wut im Bauch und desto mehr Tränen schießen ihr in die Augen, wenn sie an ihre Familie in dem Dorf denkt.

"Die Sommer" von Ronya Othomann ist ein unglaublich liebevoller und einfühlsamer Roman über Heimat, Fremdsein und Ankommen. Er erzählt von Kultur, von Gerüchen und Geschmäckern, die unser Zuhause ausmachen, von Momenten die unsere Identität prägen. Mit Leyla wird auch die Geschichte erwachsen: Ärgert sie sich zu Beginn über den Hühnerkot auf dem Boden, so fürchtet sie sich später bei der Einreise nach Syrien, dass ihr Vater wieder vom Geheimdienst verhört wird. Wie lange wird er diesmal weg sein? Was kann sie tun? Die Autorin nimmt uns mit auf diese Reise zwischen zwei Welten. Wie kann Leyla in beiden leben, ohne zu zerbrechen? Wie kann sie in Leipzig in der Bibliothek lernen, während die Familie in der Heimat flüchten muss? Welche Rolle spielt sie für die Zukunft dieser Menschen, deren Gastfreundschaft sie so viele Male genießen durfte?

All diese Fragen wirft Ronya Othmann auf und überlässt es dem Leser, definitive Antworten zu finden. Mir hat der Roman sehr gut gefallen. Der Aufbau entsprechend einer Collage aus Erinnerungen aus Leylas Kindheit ist authentisch. Wer kann schon seine Kindheit chronologisch erzählen und mit Leben füllen? Stattdessen erzähl die Autorin so wie ein Kind erzählen würde. Von einem Thema zum anderen mit zeitlichen Sprüngen, ohne sich eine Reihenfolge von Zeit und Raum diktieren zu lassen. Je näher die Erzählung der Gegenwart kommt, desto dichter und strukturierter wird sind, so dass es leichter wird die Geschehnisse einzuordnen. So verflüchtigt sich die Orientierungslosgkeit, die der Leser zu Beginn manchmal empfindet allmählich. Was bleibt ist ein tiefes Gefühl in der Seele, eine Mischung aus Bewunderung, Dankbarkeit, Empathie und Wut. Es hilft uns zu verstehen, und es hilft uns, die Geschichte von Leyla und ihrer Familie im Herzen zu tragen.

"Die Sommer" ist ein wirklich schönes Buch bei dem ich viel gelernt habe, das mich aber auch unglaublich berührt hat!