Die Geheimnisvolle

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„Wenn ich tot bin, wird sich bald niemand mehr an mich erinnern.“ So – oder so ähnlich – „schreibt es Mata Hari“ in Coelhos neuestem Roman „Die Spionin“. (Sie schreibt es natürlich nicht selber, Coelho dichtet ihr diese Worte an.)Doch das ist nicht wahr. 250 Bücher wurden über Mata Hari geschrieben, es gab Theaterstücke und Verfilmungen. Auch heutzutage, fast 100 Jahre nach ihrem Tod, ist sie immer noch die Geheimnisvolle, die elegante, erotische Tänzerin, sie gilt als selbstbewusst, als schön. Kein Wunder, dass es lohnt, auch heutzutage noch über sie zu schreiben. Ob es auch lohnt, „Die Spionin“ zu lesen, dazu nun Stück für Stück mehr.

1. Der Autor: Paulo Coelho
Coelho ist für mich auch eine reizvolle Figur, eine, auf die ich inzwischen aber nicht mehr uneingeschränkt fliege. Mit „Der Alchemist“ und „Elf Minuten“ hat er Millionen Leser weltweit in seinen Bann gezogen – auch mich. Seine Sprache ist einzigartig.
Doch der 1947 in Brasilien geborene und inzwischen in der Schweiz lebende Coelho zeigt in seinen Romanen auch immer wieder Spiritualität. Für die einen ist das besonders reizvoll, für mich persönlich manchmal eine Portion zu viel.
An Coelhos neuestem Werk hat mich gereizt, dass er dieses Mal eine wahre Geschichte einer historisch bekannten Figur verfasst hat.

2. Mata Hari
Damit wären wir bei Mata Hari. Wer ist diese Frau? Ich muss ehrlich sagen: Vorm Lesen des Romans dachte ich, sie sei Deutsche – oder vielleicht auch Französin. Auch Österreicherin hätte mich nicht gewundert. Doch tatsächlich wurde sie 1876 als Margaretha Geertruida Zelle in den Niederlanden geboren. Als verheiratete Frau trug sie die Namen Marguerite Campbell und Lady Gretha MacLeod. Sie machte Karriere als erotische Tänzerin, hatte ihre erfolgreichste Zeit in Paris.
Doch war sie Spionin – wie der Titel von Coelho besagt? Sie soll für „die Deutschen“ gearbeitet und den Decknamen H21 gehabt haben. Sie wurde von den Franzosen hingerichtet – wegen Spionage. Was wirklich geschah, so heißt es, ist offen. Coelho schreibt seine Version.

3. Die Geschichte
Mata Hari wurde hingerichtet, am 15. Oktober 1917 in Frankreich. Mit dieser Zeit beginnt Coelhos Erzählung über sie. Mata Hari sitzt im Gefängnis, hofft zwar, dass im letzten Moment ihre einflussreichen Freunde doch noch zur Hilfe kommen, dass alle einsehen, dass sie unschuldig ist, dass sie nicht spioniert hat, dass sie zu unrecht angeklagt ist. Doch auch das letzte Gnadengesuch scheitert, Mata Hari wird hingerichtet, geht ihrem Tod elegant gekleidet und mit offenen Augen entgegen.
Was zuvor geschehen ist, erzählt Coelho dann aus Mata Haris Sicht. Sie hat, so schildert Coelho, Briefe an ihren Anwalt geschrieben, Briefe, die später auch ihre Tochter lesen soll. Doch sie glaubt nicht dran, dass der Anwalt ihre Schreiben überhaupt aufbewahrt, sie glaubt, schon bald vergessen zu werden.
Sie erzählt von ihrer Kindheit, davon, dass die Mutter früh starb, dass sie als junges Mädchen auf der Schule vom Direktor vergewaltigt worden ist. Kaum erwachsen, wollte sie ausbrechen, schrieb auf die Zeitungsannonce eines Soldaten, als dessen Frau sie nach Niederländisch-Ostindien ging. Doch der behandelte sie schlecht, vergewaltigte sie, ging fremd. Der gemeinsame Sohn starb früh, wahrscheinlich von Angestellten ermordet, die Tochter überlebte. In Niederländisch-Ostindien lernte Margaretha exotische Tänze kennen und lieben und erhielt auch den Namen Mata Hari.
Zurück in den Niederlanden trennte sich das Paar, Mata Hari setzte alles daran, nach Paris zu gelangen, geriet dort an einen Liebhaber ausgefallenen Tanzes und wurde schnell berühmt.
In ihrem Brief schildert sie auch, dass sie sich durchaus auch als Prostituierte sah, die mit den Männern des Geldes wegen ins Bett ging. Nach der Vergewaltigung durch den Direktor, nach der schlimmen Ehe, hatte sie sich aber geschworen, sich nicht mehr zu verlieben.
Als ihr Ruhm in Paris nachließ, ergriff sie die Chance, nach Berlin zu gehen. Doch noch vor ihrem ersten Auftritt brach der erste Weltkrieg aus, sie floh in die Niederlande. Auf Empfehlung ihres deutschen Agenten suchte sie in Den Haag einen deutschen Diplomaten auf, der versuchte, sie unter dem Namen H21 als Spionin anzuwerben. Sie sollte über Großbritannien ins inzwischen umkämpfte Frankreich zurückkehren und von Paris aus für die Deutschen Geheimnisse erkunden.
Spoiler. Soweit ist die Geschichte bekannt, soweit entspricht die Erzählung in Coelhos Roman auch den historischen Eckdaten, wie man sie auf die Schnelle im Internet findet. Akten, die 1999 vom britischen Geheimdienst MI5 offen gelegt wurden, lassen vermuten, dass Mata Hari tatsächlich unschuldig war. Doch weitere wichtige Unterlagen sind noch (bis Oktober 2017) gesperrt.
Coelhos Mata schreibt nun weiter, sie sei zur französischen diplomatischen Niederlassung in Den Haag gegangen, habe dort vom Ansinnen der Deutschen erzählt und sich quasi als Doppelspionin angeboten. Möglicherweise wurde ihr das zum Verhängnis. Denn auch die französische Seite brauchte ein Bauernopfer, um die Moral aufrecht zu erhalten, um ihre Handlungsfähigkeit unter Beweis zu stellen.
Den Rest der Geschichte erzählt bei Coelho der Anwalt Mata Haris. Er beteuert, alles versucht zu haben, um die Tänzerin zu retten.

4. Erzählweise
„Die Spionin“ ist nicht durchgängig in einem Stil erzählt. Vielmehr wählt Coelho drei Sichtweisen. Da ist zunächst der allwissende Erzähler, der auf die Geschichte von außen schaut und direkt mit Mata Haris Ende beginnt.
Dann kommt sie selber zu Wort, in Form von Briefen, Coelho wechselt zur Ich-Erzähler-Perspektive.
Zuletzt ist man dann beim Anwalt, der über Mata Hari aber auch aus seiner Sicht schreibt.

5. Erwartungen
Dieser Punkt kommt in meinen Rezensionen in der Form eher selten vor. Aber es ging hier ja um die Geschichte einer historischen Figur, einer geheimnisvollen Frau, die bei vielen als faszinierend und stark gilt. Ich habe damit gerechnet, dass ich vielleicht Coelhos Version davon, wie sie spioniert hat, welche Geheimnisse sie geteilt hat, und ob sie vielleicht im Lauf der Geschichte als Historie sogar eine Rolle gespielt hat. All das ist bei Coelho nicht so wirklich der Fall. Fakt ist: Margaretha oder Mata hatte natürlich eine interessante Geschichte in der Form, dass sie nicht nur in ihrer kleinen niederländischen Heimatstadt als Frau eines Handwerkers oder Händlers ihr Dasein fristete, sondern in Zeiten, in den Frauen vor allem Ehefrauen und Mütter waren, sich ihr eigenes Leben eroberte und damit auch eigene große Erfolge. Dabei ist eine Stärke der Geschichte, wie Coelho sie schreibt, dass man durchaus auch Matas immerwährende Selbstzweifel mitbekommt. Sie ist nicht nur die stolze und starke Frau, die sich ihren Ruhm erobert hat und ihn in vollen Zügen genießt, sie ist auch immer eine die die Vergänglichkeit ihres Erfolges sieht und sich bewusst ist, dass sie aufgrund ihrer negativen Erfahrungen auf Liebe, auf Familie verzichtet.
Anders als der Titel jedoch erwarten lässt, gibt es KEINE Spionageschichte. Es gibt keine Frau, die als Geheimnisträgerin zwischen den Fronten fungiert, die als Doppelagantin Interna der Kriegsparteien erfährt und verkauft. Als Mata Hari auf ihre Begnadigung oder Hinrichtung wartet, sagt sie schon zu Beginn der Geschichte, sie sei unschuldig, sie sei zu unrecht angeklagt. Coelho folgt dieser Version. Und insofern erfüllt er in gewisser Weise meine Erwartungen als Leserin nicht. Denn er schreibt nicht von einer Spionin. Passender wäre vielleicht ein Titel wie meiner, wie „Die Geheimnisvolle“ gewesen. Denn als die beschriebt Coelho sie.

6. Sprache
„Die Spionin“ lässt sich angenehm, lässt sich gut lesen. In „Der Alchemist“ hatte mich Coelho auch durch seine Sprache begeistert. Im neuesten Werk ist die für meinen Geschmack nicht herausragend.

7. Zielgruppe
Der neue Coelho eignet sich für Menschen, die an der Verknüpfung von persönlichen Geschichten und Geschichte als Historie interessiert sind, die aber nicht zwingend und zu 100 % historische Fakten erwarten. „Die Spionin“ ist geeignet für Menschen, die Biografien mögen.
Dagegen ist „Die Spionin“ kein Krimi, keine Geheimgeschichte.

8. Pro & Contra
Pro
- interessante Hauptfigur mit wechselvollem Leben
- Geschichte mit historischem Hintergrund

Contra
- Titel trifft die Geschichte nicht
- Erwartung „Spionin“ wird nicht erfüllt


9. Fazit
„Die Spionin“ ist sicher ein lesenswerter Roman. Denn Mata Hari ist und bleibt eine geheimnisvolle Frau, eine die wirklich bemerkenswert war. Denn es war zu Beginn des 20. Jahrhunderts überhaupt nicht selbstverständlich, dass eine Frau selbstbewusst und selbständig ein eigenes Leben und eine eigene Karriere verfolgte, mit Männern (auf Augenhöhe) verhandelte, sich nicht unterordnete. Diese starke Figur bildet Paulo Coelho sehr gut ab, genau wie ihr wechselvolles Leben aus der niederländischen Provinz über das heutige Indonesien (Niederländisch-Ostindien) ins schillernde Paris, dann nach Berlin, zurück nach Amsterdam und Den Haag und wieder nach Paris. Gut ist auch, dass Coelho seine Mata Hari schwach sein lässt, sie zweifeln lässt, sie aber zugleich auch selbstbewusst in den Tod schreiten lässt.
Die größte Schwäche und für mich sogar Enttäuschung ist dass der Titel eigentlich eher dann zum Randaspekt wird. Die Anschuldigung, Mata Hari sei Spionin, ist zwar der Grund, warum sie dann schließlich hingerichtet wird. Doch Coelho lässt sie nicht spionieren, lässt sie nur innerhalb weniger Seiten nach dem Angebot der Deutschen, als H21 zu arbeiten, Mata Hari zur französischen Seite gehen, dort vom Angebot der Deutschen berichten und dann mit dem Entschluss, gar nicht zu spionieren, ihrer Wege gehen.
Insgesamt ist die Geschichte lesenswert, sie ist anders als Coelhos andere Werke (also auch für Leute, denen einige seiner Romane zu esoterisch waren). Ich vergebe vier Sterne und eine Empfehlung.