Doppelagentin oder tragische Figur?

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aennie Avatar

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Mata Hari: was fällt einem spontan zu dieser Frau ein? Spionin, exotische Tänzerin, erster Weltkrieg. Viel mehr war es bei mir nicht. Sicher war es nicht Niederländerin, ein Star auf dem absteigenden Ast und tragische Figur.
Insbesondere letzteres ist jedoch der Eindruck, der nach Coelhos – ja was eigentlich? Roman? Biographie? Fiktivem Briefwechsel? – bleibt. Der Autor betont, es handele sich um keine Biographie und das ist auch sicher richtig, ein Roman ist es jedoch für mich auch nicht. Gegliedert in drei Teilen erfährt der Leser in Briefen Mata Haris ihren Werdegang und ihre Sicht der Dinge. Während ihres Aufenthaltes nach ihrer Verurteilung und in Erwartung ihrer Begnadigung als Doppelagentin schreibt sie ihrem Anwalt, Monsieur Clunet. Hier schildert sie ihr Leben, beginnend u.a. mit dem für sie bezeichnenden Ereignis, der Vergewaltigung durch den Direktor ihrer Schule. Dieses Erlebnis prägte nach ihrer Aussage ihre Haltung zu Liebe, Sex und Emotionalität in ihrem gesamten späteren Leben. Der Leser erfährt näheres zu ihrer Ehe, ihrem Aufenthalt im heutigen Java und ihre Rückkehr nach Europa, schließlich ihre Etablierung als exotische Nackttänzerin mit dem malaiischen Künstlernamen Mata Hari und einer ebenso fantasievollen Vita. Deutlich spürt man in den Schilderungen, die Coelho ihr in den Mund legt, den Druck, den ihr Beruf mit sich bringt – ihre Zeit ist endlich. Schnell tauchen jüngere, nicht begabtere, Nachahmerinnen auf, und sie erkennt folgerichtig ihren 30. Geburtstag als eine Art Schallgrenze an. Ungefähr in dieser Zeitstellung kam dann ei mir der Punkt im Buch, als ich mehr und mehr Mitleid mit ihr bekam. Nicht weil sie arm dran war (im Gegenteil), sondern weil ich glaubte, die Verblendung und verfremdete Wahrnehmung ihrerselbst schon in ihren eigenen Parts zu erkennen. Bestätigt wurde mir dies dann durch den dritten Teil des Buches, der aus Sicht des Anwalts Clunet geschrieben ist, ein Brief nun an Mata Hari, in dem er ihr ihre Tätigkeit als Spionin, ihre Festnahme, den Prozess und ihre Verurteilung aus seiner Sicht schildert. Hierbei bestätigte sich mein Eindruck, den ich von ihr im zweiten Teil schon indirekt gewonnen hatte.

Aber: ist das alles wahr? War sie Doppelagentin? Oder stimmt Clunets Auffassung, dass sie keinerlei Rolle spielte? Ist alles, was seit ihrem Tod mehrheitlich Meinung über sie ist, nur Legendenbildung? Gewachsen aus der sie umgebenden Exotik, ihrer Promiskuität, das Bild der gekonnten Verführerin, die in der Lage ist, jedem Mann auf der Welt, wie wichtig er und seine Geheimnisse auch sein mögen, mit ihren Künsten und ihrem Sexappeal alles zu entlocken? Die pure Verkörperung der Waffen einer Frau? Und in Wirklichkeit doch nur die verblühende Tänzerin ohne Engagement mit gestörter Selbstwahrnehmung, die Drogen konsumiert und ihre Bedeutung im politischen Zirkel wichtiger erscheinen lassen möchte als sie es war und damit ihr eigenes Urteil provoziert?

Ich weiß es nicht. Und das stört mich. Kolossal. Ich wünschte, Herr Coelho hätte dieses Buch im Jahr 2018 veröffentlicht. Denn 2017 läuft die Sperrfrist der französischen Archive ihrer Prozessakten aus, und zumindest mit dieser Mutmaßung, was überhaupt gegen sie vorlag, hätte man sich nicht beschäftigen müssen sondern dies in die Erzählung einfließen lassen können.

Ansonsten liest es sich selbstverständlich wunderbar flüssig und ist sprachlich über jede Kritik erhaben. Nur da es eben nicht rein fiktiv ist, sondern zumindest den Anspruch erhebt eine mögliche Wahrheit einer real existierenden Person gewesen zu sein, ist für mich diese „Ungewissheit“ ein kleines Manko.