Das Zweitwichtigste bei einer Aussage ist der Wahrheitsgehalt

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owenmeany Avatar

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Welchen moralischen Dilemmata die Menschen der reichen Länder in der heutigen Zeit ausgeliefert sind: dieses brisante Thema greift Glattauer in diesem Buch auf, indem er einen Einzelfall einmal wieder so auf den Punkt bringt, dass man hinterher gar nicht mehr weiß, was gut und richtig ist. Und dafür lese ich solche Romane, denn sie zeigen auf, wie komplex das gesellschaftliche Getriebe ineinandergreift und dass es keine einfachen Lösungen gibt, wie manche Gruppierungen es wünschen.

Dass er ausgerechnet eine Politikerin der Grünen in den Fokus stellt, ist kein Zufall, denn mehr als alle anderen werden diese an ihren Grundsätzen gemessen. Die einzelnen Charaktere mit jeweils deutlich mehr Schwächen als Talenten arbeitet Glattauer farbig heraus, genauso wie das Räderwerk, in das sie alle verflochten sind. Ich vermute, dass das österreichische Rechtssystem ähnlich funktioniert wie das deutsche, denn an dem Gerichtsverfahren rollt sich der Unglücksfall noch einmal auf und wird mehr oder weniger wahrheitsgemäß beleuchtet.

Interessant finde ich die Rolle der sozialen Netzwerke, einerseits in der Beziehungsanbahnung des mysteriösen Pierre zu Sophie, andererseits aber auch in der Rolle der Medien und da ganz besonders die Kommentare, die wie der Chor in der antiken Tragödie ein Gemurmel im Untergrund ergeben und Erschreckendes zum Vorschein bringen.

Auffällig blass erscheint die Familie aus Somalia, aber das entspricht auch dem Titel des Werks, bis sich am Ende deren erschütternde Geschichte enthüllt und aus dem über weite Strecken sarkastischen Text ein humanitärer Weckruf wird.

Ich habe diesen aktuellen Roman, der mit ganz viel Diskussionsstoff aufwartet, mit großem Interesse gelesen.