der erzähler zeigt und überlässt dem leser die wertung

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blätterwald Avatar

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Respekt vor diesem Roman. Ein brisantes Thema wurde dort angefasst und die vielen Fäden behält der auktoriale Erzähler sehr sicher in seinen Händen. Die vielen Ebenen machen dieses Buch sehr lesenswert ebenso wie der Schreibstil des Autors.
Zwei befreundete Paare fahren zusammen in den Urlaub in die Toscana. Die Kinder sind mit dabei und ebenso eine Schulkameradin von Sophie-Luise. Letztere ist die älteste Tochter der Stobl-Marineks, und ihre Mutter ist eine Politikerin. Aayana, die Schulkameradin von Sophie-Luise ist ein Flüchtlingskind. Die Binders, das andere Ehepaar, ist ebenfalls mit Kindern dabei.
Schon am Abend des ersten Tages kommt es zur Katastrophe, der Urlaub wird abgebrochen. In fast schon lakonischen Sätzen wird uns als Leser alles vor Augen geführt. Immer so viel, wie der Erzähler preisgeben möchte. Und das macht er in drei Fäden. Zum einen wird der Fortlauf der Geschichte erzählt, dann gibt es die Perspektive von Sophie-Luise und ein Konvolut aus Netzkommentaren. Hier ist alles vertreten vom Gutmenschen bis zum Neonazi, die komplette Bandbreite. Dabei beziehen sich die Kommentare meist auf Zeitungsartikel.
Stück für Stück wird das Leben aller Protagonisten fast seziert. Der Erzähler überlässt die Wertungen dem Leser. Wie lässt er den Anwalt sagen :“Die Wahrheit ist ein Chamäleon, sie wechselt ihre Farbe mit dem Blickwinkel des Betrachters.“ An späterer Stelle heißt es nochmal :“ Die Wahrheit ist ein Pfau, sie hat ein facettenreich buntes Gefieder. Wir werden uns schon die passenden Federn herauspicken…“.
Der Autor geht geschickt mit der Sache um, das hätte auch gewaltig nach hinten gehen können. Die Ebene mit den Zeitungsartikeln und Kommentaren hat den Roman nicht nur gerettet, sondern ihn noch auf eine andere Ebene erhoben. Und hier treffen scheinbar heile Welten der Wiener auf die kaputten Welten der Flüchtlinge. In diesem Fall bleiben sie seltsam hintergründig, wenig facettenreich und bekommen nur durch ihren Anwalt, den etwas kauzig wirkenden Hinterwälder, Farbe und Facetten. Überhaupt ist der Anwalt eine herausragende Figur in diesem Ensemble, nicht nur als gezielter Kontrapunkt zum Staranwalt der Strobl-Martineks. Fragt man sich vielleicht anfangs noch, welche Rolle er spielt, bekommt man ganz schnell mit, welche er einnimmt. Er gibt der stummen Flüchtlingsfamilie eine Stimme, und das ganze Understatement ist gewollt und gezielt. Wie überhaupt hier jedes Wort sorgsam abgewogen wurde.
Dieser Roman liest sich nicht flüssig weg, er braucht seine Zeit und die Wirkung kann enorm sein, welche die Worte entfalten können. Bis auf Kleinigkeiten ein handwerklich sehr guter Roman, welcher so viele der menschlichen Schwächen bedient. Lesenswert vom ersten bis zum letzten Wort.