Eine Flucht-Geschichte

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Glattauer war vor allem bekannt geworden durch den Bestseller ‚Gut gegen Nordwind‘. Das Interessante an diesem Roman war u.a. die Textform. Diese bestand ausschließlich aus E-Mails, die sich die beiden Protagonisten einander schrieben, was einen sehr starken Sog entfachte.

Auch beim neuen Roman Glattauers handelt es sich nicht um einen üblichen Roman, bei welchem ein imaginärer Erzähler die Handlung wiedergibt.
Das Buch beginnt ähnlich einem Theaterstück bzw. eine sonstigen szenarischen Textform. Dem Leser wird der Ort des Geschehens erklärt, die handelnden Personen werden vorgestellt und beginnen innerhalb des Textes ‚zu leben‘. Das ist sehr gut gemacht von Glattauer.

In der Folge wird der Text immer wieder unterbrochen von Postings in sozialen Medien, die sich auf die Handlung im Buch beziehen. Da sich unter den Hauptcharakteren u.a. eine bekannte Politikerin sowie ein berühmter Winzer befinden, ist die öffentliche Wahrnehmung derer Leben enorm; daher sind auch die eingestreuten Postings durchaus realistisch und vom Autor gut gesetzt.

Worum geht es? Es geht um den tragischen Tod des Flüchtlingskindes Aayana, welches von zwei Familien der (sehr) gehobenen Mittelschicht in einen Toskana-Urlaub mitgenommen wird, weil eine der Töchter (Sophie-Luise) dies mehr oder weniger zur Bedingung gemacht hat.
Die Familie des Flüchtlingsmädchens ist zunächst sehr skeptisch – willigt der Reise letztlich aber ein. Sophie-Luise nimmt sich vor, Aayana das Schwimmen beizubringen und möchte dieses Ziel (welches eher ihres ist als das Aayanas) unbedingt erreichen. Am ersten Abend wird Aayana plötzlich vermisst; die gemeinsame Suche endet am Swimming-Pool. Aayana wird aus dem Wasser gezogen, es wird erste Hilfe geleistet und der Notarzt gerufen. Alles vergeblich, Aayana stirbt.

Es entwickelt sich eine spannende Geschichte über die Doppelmoral in Bezug auf Flüchtlinge, über das Rechtssystem, über Recht haben und Recht bekommen, über Wahrheit, Lüge und Freundschaft.
Der Roman ist gesellschaftskritisch in vielerlei Hinsicht. Hinsichtlich der Leistungsgesellschaft, hinsichtlich des Überfordertseins der Erwachsenen mit ihren Rollen als Ehepartner/Elternteil/Freund(in). Hinsichtlich der Erbarmungslosigkeit von Schülern untereinander und der Hilflosigkeit der Lehrkräfte. Hinsichtlich der Doppelmoral der Gesellschaft in Bezug auf ihre (Polit)Stars. Welche zunächst aufgebaut werden um sie dann wieder zu zerstören. Hinsichtlich der Verrohung innerhalb der sozialen Medien.
Ich habe das Buch sehr gerne gelesen und es hat mir sehr gut gefallen. Der Plot ist sehr intelligent überlegt und wirkt niemals platt. Glattauer hat einige Wendungen eingebaut, die genauso überraschend sind wie sie realistisch erscheinen.

Dieses Buch ist m.E. sehr gut geeignet, um es als Schulliteratur einzusetzen. Das aktuelle Flüchtlingsthema kann mit diesem Buch sehr gut erarbeitet werden. Es erlangt seinen Höhepunkt, als die Familie der verstorbenen Aayana von den Erfahrungen berichtet, die vor und während der Flucht aus Somalia gemacht werden mussten.
Wir lernen, dass sich hinter jedem Flüchtling eine Geschichte verbirgt, die z.T. so grauenhaft ist, dass wir uns derartiges schlichtweg nicht vorzustellen vermögen.
Ein sehr starkes Buch mit einem sehr hohen Tempo – gut gemacht Herr Glattauer!

Warum ist dies eine Flucht-Geschichte?
Nicht nur Aayana und ihre Familie sind geflüchtet. Auch Sophie-Luise flüchtet vor ihren Eltern zu ihrer Internetbekanntschaft, die ihr Halt gibt. Ihre Mutter flüchtet auch. Zu ihrem Geliebten, der ihr das Gefühl gibt, zu existieren. Sophie-Luises kleiner Bruder flüchtet zu den Großeltern, damit er möglichst wenig von der ganzen Geschichte mitbekommt. Für mich eine Flucht-Geschichte!