Moralisch interessant, aber zu klischeehaft gezeichnet

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missmarie Avatar

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Aayana ist der Inbegriff von Unauffälligkeit. Als somalischer Flüchtling mit nur wenig Deutschkenntnissen macht sie wenig Aufheben um sich selbst. Gut erzogen und angepasst versucht sie vor allem eines: Nicht aufzufallen. Kein Wunder also, dass Familie Strobel-Marinek, die das Mädchen mit in den Toskana-Urlaub genommen hat, schnell feststellt: Die Macht keine Arbeit, die spürst du gar nicht. Nur leider wird Aayana ihre wenig störende Natur zum Verhängnis. Bei einem Unfall verunglückt die 14-Jährige tödlich und damit beginnt die eigentliche Geschichte des Romans erst. Wie geht Sophie Luise mit dem Tod ihrer Schulfreundin um - schließlich wollte sie dem Mädchen schwimmen beibringen? Was ist mit Elisa Strobel-Marinek, die gerade eine politische Karriere bei den Grünen anstrebt? Oder dem befreundeten Winzerehepaar, dass ebenfalls mit von der Urlaubspartie gewesen ist?

Glattauer möchte in seinem aktuellen Roman vom Schicksal der Geflüchteten in Österreich erzählen. Möglichst persönlich, möglichst am Beispiel einer Familie. Merkwürdig ist daher, dass er der somalischen Familie selbst kaum Raum gibt. Aus ihrer Perspektive wird erst ganz am Ende erzählt, wenn es um die Fluchtgeschichte geht. Auf den gut 250 Seiten davor spürt man auch von den somalischen Angehörigen nichts. Das mag Kalkül sein, kritisiert der Text doch unterschwellig den Umgang der Gesellschaft mit Geflüchteten. Da gibt es Onlinekommentare und Zeitungsartikel, in denen dem Leser die unappettliche Seite der freien Meinungsäußerung vor Augen geführt wird. Man spricht über die anderen, nicht mit ihnen. Einen ähnlichen Vorwurf lässt Glattauer auch eine seiner Figuren im Verlauf der Geschichte aussprechen. Bei allem künstlerischen Gestaltungswillen ist aber auch der Autor nicht davor gefeit, in diese Falle zu tappen. Auch er erzählt vor allem von den Befindlichkeiten der wohlhabenden Familie. Es geht um politische Karrieren, Affären, zerbrochenen Freundschaften und Drogentrips. In seinem Roman sollen, laut Werbung des Verlags, Menschen zu Wort kommen, die keine Stimme haben. Das trifft aber allenfalls auf das Ende zu.

Natürlich greift Glattauer auf alte Erfolgsrezepte zurück. Der Romantext wird immer wieder durch Sachtexte fiktiver Natur durchbrochen. Sogar eine Online-Chat-Liebe entwickelt sich, die doch sehr an Leo Leikes Geschichte aus „Gut gegen Nordwind“ erinnert. Das sind nette Zugaben am Rande. Sie durchbrechen aber auch den Erzählfluss und tragen dazu bei, dass der Roman insgesamt „zu viel“ ist. Zu viele Themen, zu viele Textsorten, zu viele Nebengeschichten, die nicht vollständig ausgearbeitet sind. Neben dem Flüchtlingsthema und der Liebesgeschichte wird nämlich auch noch das Drama der Obdachlosen und der Kranken ausgebreitet. Die Figuren selbst bleiben dabei leider viel zu klischeehaft. Reiche Politikergatting, affektierter Anwalt oder Von-Beruf-Ehegatting scheinen wie Abziehbilder ohne Substanz. Die jüngeren Kinder der beiden Ehepaare werden übrigens bereits nach dem ersten Kapitel in die Wüste (bzw. zu Verwandten) geschickt und tauchen dann nicht mehr auf.

Insgesamt spricht der Roman wichtige Themen an. Es scheint aber, als stehe die Konzeptidee im Vordergrund und nicht die literarische Ausarbeitung der Geschichte. An alte Werke des Autors reicht dieser Roman leider nicht heran.