Zerfall eines Idylls

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evaczyk Avatar

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Daniel Glattauers Buch "Die spürst du nicht" beginnt wie ein großbürgerlicher Sommertraum: Zwei befreundete Ehepaare samt Nachwuch fahren gemeinsam zum alljährlichen Sommerurlaub in die Toskana, genießen auf der Terrasse mit Poolblick den ersten Prosecco. Das Leben kann so schön sein, der perlende Wein überdeckt fad gewordene Beziehungen. Diesmal ist die Gruppe erweitert um Aayana, eine Klassenkameradin der 14-jährigen Sophie-Luise, in der Klasse eher isoliert. von So-Lu aber als neue beste Freundin auserkoren - schon wegen der krassen äußeren Kontraste, die auf Instagram abgehen werden bei ihren Followern.

Da wird schon ein Akzent dieses Romans gesetzt: Der Schein und das Sein, die öffentliche Begleitung privaten Lebens, das im Fall der Strobl-Martineks durchaus auch öffentlich ist, denn So-Lus Mutter ist eine grüne Abgeordnete und wird als künftige Umweltministerin gehandelt.

Die Idylle bricht zusammen, als es zu einem Umglück kommt: Aayana ertrinkt im Pool, so leise und unbemerkt, wie sie schon gelebt hat. Das private Leid, der öffentliche Umgang mit dem Fall, eine Entschädigungsklage, und das Zerbrechen einer Familie protokolliert Glattauer mit Einsichten in die Gefühls- und Gedankenwelt seiner Protagonisten, wobei er immer wieder neue Entwicklungen bereit hält.

Begleitet, kommentiert, beobachtet wird das Geschehen von Kommentaren in den sozialen Medien. Diese Textpassagen wirken wie eins zu eins aus jeder beliebigen Diskussion auf Twitter oder Facebook entnommen, in der es um Frauen, um Migration, um Flüchtlinge geht: Die Daueraufgeregten, die Dauerempörten, die Ausländerfeinde, die Misogynen, die Besserwisser, die Selbstdarsteller, die Gutmenschen, die Rcchten: die übliche Mischung derjenigen, die zwar keinen der Beteiligten kennen, die Geschichte selbst nur in den Medien verfolgen, aber selbstverständlich eine dezidierte Meinung haben, von der sie alle anderen zu überzeugen versuchen.

Wie geht man mit einem Schicksalsschlag wie dem Tod eines Kindes um, kann man überhaupt damit fertig werden, oder versucht man nur zu verdrängen? Vor allem die Frauenfiguren, allen voran Sophie-Luise und ihre Mutter, prägen die Handlung, während die Ehemänner Binder ud Strobl-Martinek eher farblos bleiben. Am meisten Kontur, auch als humoriger Kontrapunkt, gewinnt der Anwalt, der die Strobl-Martineks in der folgenden Entschädigungsklage vertritt: Ein selbstbewusster Schaumschläger, selbsternannter Promi-Anwalt, der immer auch nach dem Medienecho seiner Auftritte schielt.

Einfühlsam geschrieben zeigt Glattauer das Auseinanderbrechen einer scheinbar heilen Welt und die Konfrontation mit den den Flüchtlingstragödiem, die viele in den Nachrichten zu Kenntnis nehmen und dann wieder ausblenden. Die somalische Familie bleibt dabei gleichwohl seltsam konturlos, ihr Schicksal wie eine Anhäufung von Fällen und manches angesichts der Realitäten somalischer Gesellschaftsstrukturen nicht hundertprozentig überzeugend.

Sehr gut gefällt mir die Sprache des Autors, der pointiert, bildhaft und genau hinschauend schreibt, der Beziehungen, Machtverhältnisse und andere zwischenmenschliche Dynamiken seziert. Da kommt es dann zu Sätzen wie:

"Wie viele ihrer ehrenwerten Kolleginnen und Kollegen bedienen sich an ihrem Elend und genießen es, endlich ein paar Stufen darüber zu stehen und wohlig schauernd zu ihr in den Abgrund zu starren. Sie strafen sie mit der abscheulichsten Form der Schadenfreude, mit ihrer inszenierten Betroffenheit."

Sehr lesens- und nachdenkenswert!