Tina ist verliebt!

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"Tina ist verliebt" - schreit ihr kleiner Bruder und hüpft vergnügt auf und ab in seinem Bettchen. Wenn er wüsste...

Tina Mahlbach ist ein siebzehnjähriges Berliner Mädchen aus dem Milieu, das oft als "untere soziale Schicht" bezeichnet wird - ihre Mutter lebt von Staatshilfe und angelt sich ab und zu reiche Männer, die ihr lebenslang für die Kinder bezahlen. Um ihre Sprösslinge scheint sie sich nicht besonders zu kümmern, zumindest hat Tina diesen Eindruck. Tina liebt ihren kleinen Bruder Benny abgöttisch, doch als sie ihren Helden aus den Kindertagen wiedertrifft, der sie mal in der Schule von bösen Jungs beschützt und anschließend geküsst hat, entdeckt sie eine ganz neue Dimension von Liebe - Liebe, die blind macht...

Martin Werneck, das Idol von Tina, wurde gerade aus dem U-Haft entlassen. Freigesprochen, obwohl er seinen vierzehnjährigen Halbbruder Jonas getötet hat. Im Affekt, so die Meinung des Richters, denn Martin wurde angeblich Zeuge, wie Jonas sich in einer verlassenen Scheune an einem kleinen Jungen sexuell verging und ihn anschließend tötete. Martin erregt das Mitleid der Öffentlichkeit, wird von der Presse bejubelt - denn die angeblichen Greueltaten seines verstorbenen Vaters, der den Jungen sexuell misshandelt haben sollte, kommen ans Licht. Die böse Stiefmutter soll dabei weggesehen haben und überhaupt viel falsch gemacht haben bei der Erziehung. Kein Wunder, dass da ein Kind zum Kinderschänder und der andere zum Mörder wird, bei solchen Eltern! Martin kehrt nach Hause zurück wie ein Sieger - und sein größter Fan ist Tina...

Die Autorin erzählt die spannende und mitreißende Geschichte aus mehreren Perspektiven - so ist da die Sicht der Dinge durch Tina, zusammengefasst in einen langen Brief an den Herrn Schneider - den leitenden Polizisten der SoKo "Scheune", der auch nach der Gerichtsverhandlung nicht ganz an die Schuldfreiheit Martins glaubt. Krasser Gegensatz dazu ist die Sicht Martins selbst, wobei dem Leser schon bald klar wird dass er tatsächlich nicht unbedigt das ist was die Menschheit als "normal" bezeichnet. Eine große emotionale Bedeutung hat auch die Sicht der Dinge durch Irene Werneck, die Stiefmutter. Im Laufe der gesamten Geschichte rennt sie nur einer Frage hinterher: "Was habe ich falsch gemacht?" Hat sie die abnormalen Neigungen ihres Mannes übersehen? Welchen Fehler hat sie bei der Erziehung ihres leiblichen Sohnes Jonas und ihres Ziehsohnes Martin gemacht? Hat sie überhaupt einen Fehler gemacht oder sind etwa nur die Gene schuld?

Der Schreibstil des Romans lässt sich nicht in einem Wort definieren, denn Isolde Sammer wechselt geschickt zwischen dem trockenen Satzbau, wenn die Geschichte aus der Perspektive von Martin geschrieben wird, dem emotionalen Mädchentagebuch-Schreibstil in Tinas Aufzeichnungen, ausufernden Erzählungen bei Rückblenden in die Kindheit Martins... Dennoch ist die Geschichte klar strukturiert und sehr gut durchdacht. Keine Ungereimtheiten, dafür ganz viele Emotionen. Unterschiedliche Sicht auch beim Leser: Ganz bestimmt kann man das Verhalten von Tina nicht gutheißen, aber wie sie sich rührend um ihren kleinen Bruder kümmert, macht einem das Herz auf. Die böse Stiefmutter wird beim genauen Betrachten gar nicht als böse empfunden, eine arme vom Schicksal gebeutelte Frau, je tiefer man in ihre Geschichte blickt. Für Martin hat man noch weniger übrig als für Tina, aber sein Werdegang ist erschreckend  alltäglich - wie viele vernachlässigte Halbwaisen erleiden das gleiche Schicksal. Wird man da so schnell zum Straftäter?

Es ist vielleicht in einer gewissen Hinsicht ein Frauenbuch - die Intention der Autorin ist, dass man mitfühlt. Wer ist das Opfer und wer der wahre Täter?

Im Laufe der Geschichte wird dem Leser allmählich vor Augen geführt, warum Martin so wurde. Sogar eine wissenschaftliche Erklärung mit der genetischen Veranlagung - das sogenannte MAOA-Gen, das von den Forschern für das aggressive Verhalten mit verantwortlich gemacht wird - wird geschickt in die Handlung eingefädelt.

An manchen Stellen mag der Roman etwas übertrieben wirken - gerade solche Passagen wie die Entlassung Martins, der bejubelt wird wie siegreiche Sportler bei Heimkehr - obwohl die Umstände der Tat nicht hundertprozentig für die Unschuld Martins sprechen, und immerhin: er hat einen Menschen umgebracht! Soviel öffentliche Akzeptanz und Bewunderung sind auch in der heutigen, von den Medien manipulierten Welt eher undenkbar.
Auch beim Verhalten Tinas fragt sich der Leser - wie weit kann ein Mensch aus Liebe gehen? Kann man wirklich tatenlos zusehen, wie der geliebte Partner einem anderen Leid antut?

Aber genau das will die Autorin mit ihrem Psychothriller zeigen: Die Grenzen der Normalität verschwimmen und verschwinden, wenn man dies zulässt, gewissermaßen den Schalter im Kopf umlegt und sich von den Gefühlen leiten lässt. Und das genaue Gegenteil: wie es enden kann, wenn ein Mensch wie Martin, der sich selbst als gefühllos bezeichnet, so gut wie keine Emotionen zu haben scheint. Schon als Kind keine Mutterliebe empfangen, reagiert er auch als Erwachsener nicht auf Zärtlichkeiten, weder sein Kopf noch sein Körper. Welchen Kick braucht so ein Mensch?..

Eher ungewöhnlich für einen Psychothriller ist der Kniff, dass der wahre Mörder dem Leser schon nach wenigen Seiten bekannt ist, der Roman beschäftigt sich nur mit der Frage nach dem "Warum". Und diese Frage hat Isolde Sammer in einer sehr interessanten Art und Weise beantwortet.