Weiße, absolute Stille

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern Leerer Stern
buecherfan.wit Avatar

Von

 

Irene Werneck muss innerhalb kurzer Zeit mehrere Schicksalsschläge hinnehmen. Erst stirbt ihr Mann Joachim sehr plötzlich, und sie bleibt zurück mit ihrem Stiefsohn Martin aus Joachims erster Ehe und dem gemeinsamen Sohn Jonas. Dann passiert etwas Furchtbares: Stiefsohn Martin bringt seinen Halbbruder Jonas um, weil er ihn angeblich dabei überrascht hat, wie er einen kleinen Jungen ermordete. Außerdem behauptet er, von seinem Vater missbraucht worden zu sein. Seine Stiefmutter habe Bescheid gewusst und weggesehen. Nach anfänglicher Sympathie von Nachbarn, Freunden und den Medien schlägt Irene überall Hass und Verachtung entgegen und sie hat nur noch wenige Freunde, die zu ihr halten. Ihre ganze Existenz liegt in Scherben: das Ansehen ihres toten Mannes ist beschmutzt, und sie steht als Mutter eines Kinderschänders und als Stiefmutter eines Totschlägers da. Als Martin freigesprochen wird, ist alles noch schwerer für Irene. Sie glaubt Martins Version nicht und will die Wahrheit herausfinden, genauso wie der damals ermittelnde Kommissar Hanno Schneider, der sich mit seiner Auffassung nicht durchsetzen konnte. Auch er sieht eine Reihe von Indizien, die für Martins Täterschaft sprechen. Durch Irenes Erinnerungen an Auffälligkeiten in Martins Kindheit, die von der Großmutter Gudrun und von seinem Vater vertuscht oder verharmlost wurden und durch die Ermittlungen von Privatdetektiven, die Irene engagiert, kommen immer mehr belastende Fakten ans Licht, und es entsteht das Psychogramm eines abnormen jugendlichen Täters.

Der Roman ist kein Whodunit, Martins Täterschaft steht von Anfang an außer Frage. Es geht der Autorin um etwas ganz Anderes. Sie versucht, die Frage nach dem Ursprung des Bösen zu beantworten. Was macht einen Menschen zum perversen Kindermörder? Was bringt einen Menschen überhaupt dazu, einen anderen zu töten? Sie lässt den Leser tief in seelische Abgründe blicken und bezieht auch medizinisches Wissen ein, das solche Fehlentwicklungen erklärt.

Besonders raffiniert sind in diesem Roman Erzählperspektive und Struktur. Die Autorin benutzt einen allwissenden Erzähler, der die Gedanken und Gefühle fast aller handelnden Personen kennt. Diese Teile des Romans werden in der dritten Person erzählt. Dann gibt es in der jungen Tina Mahlbach, Martins Freundin, noch eine Ich-Erzählerin, die einen Bericht an Kommissar Schneider schreibt, den dieser zu gegebener Zeit an Tinas kleinen Bruder Benny weiterleiten soll. Die knapp 19jährige Tina erzählt ihre Geschichte kurz vor ihrem geplanten Tod - als Schuldbekenntnis und zur Aufklärung der Verbrechen, in die sie sich in ihrer Naivität und Verliebtheit hat hineinziehen lassen. Ihr einziges Ziel ist es, den siebenjährigen Benny zu retten. Auch sie ist ein Opfer eines skrupellosen, manipulativen Täters, der sie glauben lässt, sie könne ihn durch ihre Liebe retten und vor schlimmen Taten bewahren. Die Autorin macht die Tragik ihrer Verblendung an mehreren Stellen deutlich, ganz besonders aber in dem Bild der Verschmelzung mit dem geliebten Partner. Tina möchte in Martin hineinschlüpfen und eins mit ihm sein, indem sie wie mit einem Reißverschluss seine Brust öffnet. Für Martin sieht diese Verschmelzung anders aus: “Als sie dann noch das vom Reißverschluss und vom Hineinschlüpfen sagte, stand einen Moment lang ein wunderschönes Bild vor seinem inneren Auge: wie er Tina vom Hals bis zur Möse aufschlitzte und sich mit ihrer Haut umhüllte.” (S. 320) Isolde Sammer schreckt an dieser Stelle und an einigen anderen nicht vor drastischen und grausigen Details zurück. Dadurch gelingt ihr ein realistisches Porträt eines gefährlichen Triebtäters.

Auch wenn man den Täter kennt, ist “Die Stille nach dem Schrei” ein sehr spannender Psychothriller. Der Leser folgt Irene Werneck und Hanno Schneider auf der mühsamen Suche nach der Wahrheit und fragt sich bis zum Schluss, ob es dieses Mal gelingen wird, den Täter zu überführen . “Die Stille nach dem Schrei” ist ein sehr empfehlenswertes Romandebüt.