Das Monster aus der Tiefe von einst ... ist heute lukrativ. Und morgen?

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Meeresbiologin Dr. Ha Nguyen reist auf die abgelegene Insel Con Dao, um eine neue Krakenart zu untersuchen. Diese scheint soziale Formen und eine eigene Sprache entwickelt zu haben. Doch der globale Wettstreit um Ressourcen und Herrschaft hat eigene Pläne mit dieser neuen Spezies. – Und diese selbst? Will, dass die Menschen verschwinden.

Ein wunderbares Stück Literatur, das sich nicht leicht einem Genre zuordnen lässt. Am ehesten ist es ein Stück Gegenwartsliteratur, wenngleich auch eines der Zukunft. Einer sehr nahen und sehr wahrscheinlichen Zukunft. Wer schon heute ein wenig über den Tellerrand hinauszuschauen vermag, kann zumindest erahnen, wie große, global agierende Konzerne arbeiten. Was Geld und Macht kaufen und diktieren können. Eine Insel zu erstehen und die ursprünglichen Einwohner zu vertreiben, ist da noch das Geringste. Auf eben dieser Insel Con Dao mit den Überbleibseln einer älteren Diktatur, fliegt die Meeresbiologin Dr. Ha Nguyen ein. Sie ist Spezialistin und soll die neue Spezies, deren Kultur vor der Insel im Meer entstanden ist, näher untersuchen. Mit ihr zusammen leben dort die ehemalige Elitekämpferin Altantsetseg, die für die Sicherheit der Bewohner und der Insel zuständig ist und die künstliche Intelligenz in einem Androidenkörper Evrim. Allein mit diesen drei Charakteren sind Aspekte unserer Welt verwoben, die bereits heute weite Kreise ziehen.
Ein weiterer Erzählstrang betrifft mehrere Sklaven auf einem der zahlreichen Fangschiffe, der Sea Wolf, die für Fisch oder besser: Protein sorgen sollen. Jeder von ihnen bringt eine eigene Geschichte mit. Sie werden von bewaffneten Söldnern bewacht, bis ein Unglück geschieht. Aber ihre ausweglose Situation zu beobachten, die Machtlosigkeit, selbst wenn es keine Wachen, sondern nur noch eine emotionslose KI an Bord gibt – sie sind umgeben vom weiten Meer und können dem Schiff nicht entkommen (so wie wir unseren Planeten?) – war so eindringlich geschrieben, dass ein Zurseitelegen des Buches nicht möglich war.
Obwohl die Story zahlreiche Thrilleranteile enthält, erzählen sich weite Strecken eher ruhig und zwischen den Zeilen. Nayler führt den Leser sehr nahe an seine Themen heran und lässt ihn selbst sehen und entdecken. Seine philosophische Betrachtungsweise kann sich auf diese Weise wesentlich stärker entfalten.
Ha ist eine sehr sympathische Frau, die jedoch einigen Schmerz mit sich herumträgt. Das ist beinahe von der ersten Seite an zu spüren. Ihr Lebensgefährte, mit dem sie via Internet kommuniziert, wirkt schnell verdächtig. Aber es sind die Kraken, die Ha beeindrucken. Und bald auch Evrim, der menschlicher ist, als manche Person aus Fleisch und Blut. Altantsetseg, die in so vielen Kriegen gekämpft hat, dass sie zwar Pläne für die Zukunft macht, aber innerlich so zerrissen ist, dass sie kaum noch sie selbst sein kann.
Faszinierend ist die Zusammenführung aller Erzählstränge – und das, obwohl Nayler immer den jeweiligen Charakter im Blick behält. Und vielleicht ist es auch genau das, was er sagen will. Wir sind alle nur Menschen. Wir fühlen, wir denken. Und erst, wenn genau das nicht mehr geschieht, geben wir unser Menschsein auf. Und müssen dann auch mit den Konsequenzen leben. Profit ist nicht alles. Und was geschieht erst, wenn eine andere Spezies fühlt und denkt?
Sehr schön sind auch die zahlreichen Zitate aus zwei fiktiven Büchern. Einmal von Ha geschrieben: „Wie Meere denken“ und einmal von Dr. Arnkatla Mínervudóttir-Chan: „Die Mauern des Geistes“. So perfekte Asätze, dass man wünscht, es gäbe diese Bücher tatsächlich.
Alles in allem ist „Die Stimme der Kraken“ ein bestechendes Buch. Wahnsinnig tiefgründig, spannend erzählt, mitreißend und sehr nachdenklich stimmend. Genauso muss das.