Spannend und gleichzeitig bedrückend realistisch

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elfe1110 Avatar

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Stell dir vor, „wir entdecken, dass wir zwar die einzige Homo-Spezies sein mögen, es tatsächlich aber noch eine andere sapiens-Spezies gibt.“ Wie würden wir als Menschheit dieser Spezies begegnen? Im eigentlichen und übertragenen Sinne? Die Szenarien, die Ray Nayler in seinem Roman zum Leben erweckt, sind in jedem Falle spannend und phantastisch, wenngleich auch kritisch.

In der Zukunft sind die Meeresbiologin Dr. Ha Nguyen sowie der sehr menschliche Android Evrim auf der evakuierten und streng abgeriegelten Insel Con Dao einem unglaublichen Phänomen auf der Spur. In der Tiefsee vor der Insel lebt eine Krakenpopulation, die offensichtlich in der Lage ist, bewusst zu kommunizieren. Unter der Aufsicht der Wissenschaftlerin Dr. Arnkatla Mínervudóttir-Chan beginnen sie, die Hinweise zu entschlüsseln; unter Zeitdruck, denn von außen droht Gefahr. – Auf dem autonomen, KI-gesteuerten Frachter Sea Wolf arbeiten derweil Eiko und Son als Slaven unter unmenschlichen Bedingungen. Effizienter und günstiger als Salzwasser-anfällige Roboter müssen sie die letzten Fischbestände aus den Ozeanen holen und sind der permanenten Beobachtung durch die KI hilflos ausgesetzt. – In der Republik Astrachan erhält Rustem einen geheimnisvollen Auftrag, der sein ganzes Können verlangt. Als einer oder vielleicht der beste Hacker der Welt soll er Zugang zu einem besonderen KI-Netzwerk finden.

Zugegeben: Ich bin keine IT-Kennerin und brauchte einige Seiten, um in diesen Roman reinzukommen. All die neuen Technologien und Methoden, Alltag in diesem Roman, sind spooky –aber tatsächlich unglaublich nah an dem, was wir heute schon im Kleinen können. Und gerade das zeichnet diesen Roman aus: Nayler hat viel Recherche und Wissen in seine Story eingeflochten, was sehr realistisch anmutet. Das, verbunden mit vielen philosophischen und ethischen Ansätzen, macht dieses Buch zu einem krass guten und spannenden Roman.

„Das Großartige und das Schreckliche an der Menschheit ist: Wir werden immer das tun, wozu wir in der Lage sind.“

Ganz in diesem Sinne stößt der Roman viele Themen unserer Zeit an: Die rasanten technologischen Entwicklungen, politische und gesellschaftliche Umbrüche, die weiterhin andauernde massive Ausbeute des Planten. Und hier treffen dann Fragen über unsere Zukunft auf tiefgründige philosophische Betrachtungen, die auch die Protagonisten des Romans betreffen: Wie weit wird KI unser aller Leben bestimmen? Wer werden die Gewinner, wer die Verlierer in diesem System von Macht, Ausbeute, Überwachung, technologischen Entwicklungen sein?

Besonders spannend fand ich die Gegensätze von Leben und Technologie in diesem Roman: Da ist auf der einen Seite der Android Evrim, eine perfekte KI, ein nahezu humanes Wesen. Der sich gemeinsam mit Ha Gedanken über sein „Menschlichsein“ und über ein Bewusstsein macht. Und auf der anderen Seite erleben wir eine Jahrtausende alte Spezies, die in vermeintlich einfachster „Sprache“ kommuniziert. Aber sind diese Kraken wirklich so „einfach“ entwickelt, wie wir Menschen das beurteilen, oder ist es gerade unser Unvermögen zur Kommunikation, das uns sie unterschätzen lässt?

Ergreifend realistisch auch das Gefühl der Gleichgültigkeit, das zum Ende des Romans an Bedeutung gewinnt, sich aber von Anfang an durch die Story zieht. Und die sich in allem manifestiert: im Umgang miteinander, mit der Natur, mit Technologie, mit dem Planeten.

„Was unsere Anwesenheit auf diesem Planeten tut, ist töten. Alles, was wir haben – alles, was wir zum Leben nutzen -, ist jemand anderem genommen worden.“

Ein spannender Roman, der sicherlich kein ruhmreiches Bild der Menschheit zeichnet, aber auf seine Art die richtig großen, globalen Themen unserer Zeit anspricht.