Was ist Bewusstsein und bis wann?

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ismaela Avatar

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Ray Naylers „Die Stimme der Kraken“ wird als Öko-Thriller angepriesen, was meiner Meinung nach aber nicht so ganz hinkommt. Eher ist die Geschichte eine Mischung aus Science Fiction und Dystopie, in der die Frage: was ist Bewusstsein und vor allem, wann ist es das? eine zentrale Rolle spielt.

„Die Stimme der Kraken“ wird aus der Sicht verschiedener Personen erzählt und spielt in einer Welt, die zu großen Teilen von Künstlicher Intelligenz, digitalen Medien und Überwachung gesteuert wird. Zwar wirken die Zustände nicht frontal verstörend wie etwa in „1984“, das Grauen und die Machtlosigkeit der Einzelnen ist ein bisschen subtiler, aber deshalb nicht weniger erschreckend.

Die Biologin Dr. Ha Nguyen wird auf die Insel Con Dao eingeflogen, wo in den Wassern eine Spezies Kraken entdeckt wurde, die scheinbar über ein Bewusstsein und eine eigene Kommunikation verfügt. Eine große Firma, die die Insel gekauft und räumen hat lassen, ist an diesem Bewusstsein sehr interessiert, und deren Leiterin, Dr. Arnkatla Mínervudóttir-Chan, ganz besonders. Diese hat den weltweit ersten Androiden Evrim erschaffen, ein zwar künstliches Wesen, aber mit einem Bewusstsein und der Fähigkeit, menschlich zu empfinden. Das sich an alles erinnert, keinen Schlaf braucht, und auf der Insel Con Dao Ha Nguyen bei der Erforschung dieser Kraken unterstützen soll. Beide werden von einer vom Leben und Krieg gezeichneten Soldatin, Altantsetseg, begleitet und – wie sich später herausstellen soll – überwacht.

Die gesamte Erzählung rund um „Die Stimme der Kraken“ beschäftigt sich mit Bewusstsein und wie sich dieses, vor allem bei „Nicht-Menschen“ eingesetzt, auf eine Gesellschaft auswirkt. Da gibt es große KI-gesteuerte Sklavenschiffe, die Menschen entführt und zur Arbeit an Bord „zwingt“ (illegaler Fischfang und –verarbeitung), teilweise mit sehr rigorosen Mitteln. Da gibt es computergesteuerte Drohnen, getarnt als Insekten, die Menschen überwachen und, gegebenenfalls, ausschalten. Da gibt es Hologramme, die, als Menschen konstruiert, bei Einsamkeit, unfreiwilligem Singledasein oder bei einer Therapie eingesetzt werden. Und da gibt es diese Kraken, die miteinander kommunizieren und eine Symbolsprache entwickelt haben, die die Gruppe um Ha Ngyen entschlüsseln möchte.
Letztendlich geht es dabei allen vor allem um eins: Bewusstsein zu kontrollieren. Durch direkte Einflussnahme, etwa bei Drohnen, KI oder Hologrammen, aber auch im Verborgenen, indem Wesen wie Evrim erschaffen werden, die man zwar mit einem Bewusstsein ausstattet, dieses aber nach den eigenen Vorstellungen konstruiert. Das Bewusstsein der Kraken sticht dabei heraus: es lässt sich nicht kontrollieren und wird damit unberechenbar, was sich auch alsbald herausstellen wird.

Dieser Roman ist in seiner Komplexität ein bisschen schwer zu fassen, aber vielleicht auch gerade deswegen so interessant. Es gibt sehr viele Denkansätze und die Frage, was passiert, wenn eine durchdigitalisierte Welt, voller künstlicher Intelligenz und Programmierungen, aus der Kontrolle durch den Menschen ausbricht und sich verselbständigt. Gibt es dann noch Empathie? Mitleid? Ist das Ganze dann noch menschlich? Wenn man sich anschaut, wie heute bereits Kinder völlig unbedarft KI nutzen, als wäre es das normalste der Welt, und sich selbständiges Denken und Fühlen dadurch immer weiter zurückbildet, sind die Szenarien in „Die Stimme der Kraken“ vielleicht gar nicht mehr so unrealistisch.