Einblick in ein anderes Land, andere Kulturen und die Schwere der Entscheidungen, die wir treffen

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Karissa Chens “Die Tage nach dem Pflaumenregen” ist ein eindrucksvoller Roman, der einen auf eine intensive Reise durch Zeit und Raum führt. Die Geschichte beginnt 1938 in Shanghai, als sich Suchi und Haiwen kennenlernen und ineinander verlieben. Doch ihre junge Liebe wird durch die Kriegswirren auf eine harte Probe gestellt. Haiwen meldet sich freiwillig zur Armee, um seinen Bruder zu schützen, und hinterlässt Suchi nur seine Geige und eine Nachricht: „Verzeih mir.“
Was wie eine tragische Liebesgeschichte beginnt, entfaltet sich über sechs Jahrzehnte hinweg zu einer tiefgründigen Erzählung über Erinnerungen, Versäumnisse und die Sehnsucht nach Versöhnung - mit den eigenen Entscheidungen und den Menschen, die sie betreffen. Als sich Suchi und Haiwen sehr viel später in Los Angeles wiedersehen, zeigt sich, dass die Vergangenheit nicht einfach verblasst – sie lebt in jedem unausgesprochenen Wort weiter.
Karissa Chens Schreibstil ist poetisch und atmosphärisch, voller leiser Melancholie, aber auch alles überdauernder Hoffnung. Besonders beeindruckend ist die Art, wie sie die komplexen Emotionen ihrer Protagonist:innen schildert: Suchis Zögern, sich der Vergangenheit zu stellen, steht in starkem Kontrast zu Haiwens Wunsch nach einer zweiten Chance. Diese Geschichte bedarf keiner übermäßigen Dramatik. Es sind gerade die leisen Momente - ein Blick, zufällige Berührungen, ein ungesagtes Wort - die am lautesten sind und direkt unter die Haut gehen.
Chen gelingt es meisterhaft, die politischen und historischen Ereignisse jener Zeit mit den persönlichen Schicksalen ihrer Figuren zu verweben. Der Zweite Chinesisch-Japanische Krieg (1937–1945) war eine Zeit brutaler Gewalt und Zerstörung, die das Leben vieler Menschen unwiderruflich veränderte. Besonders in Shanghai, das lange als kosmopolitisches Zentrum galt, hinterließ der Krieg tiefe Spuren. Die japanische Besatzung, die Verfolgung der Bevölkerung und die Unsicherheit jener Jahre werden in der Geschichte spürbar – nicht durch direkte Schilderungen von Schlachten, sondern durch die Entscheidungen der Figuren im Buch, die aus Angst, Notwendigkeit oder Pflichtgefühl handeln. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die Erfahrung der chinesischen Diaspora. Viele Chines:innen, die nach dem Krieg oder während der politischen Unruhen nach Amerika auswanderten, fanden sich in einer völlig neuen Welt wieder – zwischen Assimilation und dem Bewahren der eigenen Identität. Suchis Leben in Los Angeles reflektiert genau dieses Spannungsfeld: Sie hat sich angepasst, aber die Vergangenheit lässt sich nicht einfach abschütteln. Diese Thematik verleiht dem Roman eine zusätzliche Tiefe, die über eine reine Liebesgeschichte hinausgeht.
Die Tage nach dem Pflaumenregen ist ein bewegender, tiefgründiger Roman, der weit über eine klassische Liebesgeschichte hinausgeht. Er ist eine Reflexion darüber, wie Entscheidungen unser Leben prägen und wie die Zeit Wunden heilt, aber nie ganz verschwinden lässt. Wer historische Romane mit emotionaler Tiefe und fein ausgearbeiteten Figuren schätzt, wird dieses Buch lieben.