Noch mehr Tote in der Stadt der Toten

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buecherfan.wit Avatar

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In Sam Hawkens Roman “Die toten Frauen von Juárez” geht es um ein Problem, das durch die internationale Presse längst in der ganzen Welt bekannt ist. Nach offiziellen Angaben sind dort seit 1993 über vierhundert Frauen vermisst oder wurden ermordet aufgefunden, eventuell sind es allerdings bis zu 5000. Sam Hawken will auf das Problem aufmerksam machen und kämpft für Gerechtigkeit für die Frauen, deren Schicksal der Regierung anscheinend nicht so wichtig ist wie der Krieg der Drogenkartelle untereinander und der Kampf der Regierung gegen die Kartelle.

Der heruntergekommene Boxer Kelly Courter ist aus den USA nach Mexiko geflüchtet, um der Strafverfolgung zu entgehen und ist kurz hinter der Grenze in Ciudad Juárez gelandet. Er ist ein Ex-Junkie und Alkoholiker und verdient sich seinen Lebensunterhalt mit miesen Boxkämpfen, bei denen er sich verprügeln lassen muss. Das mexikanische Publikum liebt es, einen Gringo bluten zu sehen. Außerdem dealt er für Esteban Salazar, den Bruder seiner Freundin Paloma. Dann nimmt er nach einer Begegnung mit seinem zwielichtigen Manager Ortiz wieder Drogen und bekommt deshalb nicht mit, dass seine Freundin Paloma spurlos verschwunden ist. Paloma hat für die Organisation Mujeres Sin Voces gearbeitet, die den Familien der verschwundenen oder ermordeten Frauen hilft. Kelly stellt Nachforschungen an und findet heraus, dass Paloma aus einer Kirche entführt worden ist, wo sich die Angehörigen von verschwundenen oder getöteten Frauen treffen. Dann gerät er selbst unter Verdacht ebenso wie Palomas Bruder Esteban. Rafael Sevilla, ein Polizist kurz vor seiner Pensionierung, den er länger kennt und der sich von Kelly Informationen über Drogenlieferanten erhofft, ist bei Kellys Verhaftung anwesend und verhindert das Schlimmste. Kelly landet im Gefängnis genauso wie Esteban. Der Polizist Garcia genannt La Bestia versucht mit brutaler Folter, von beiden ein Geständnis zu erzwingen. Enrique Palencia, der junge Assistent von Garcia, nimmt Kontakt zu Sevilla auf. Beide glauben nicht an die Schuld von Kelly und Esteban und wollen gemeinsam die Wahrheit herausfinden. Sevilla hat persönliche Gründe, sich in dieser Angelegenheit zu engagieren und die wahren Schuldigen zu finden.

Der Roman besteht aus, man könnte auch sagen: zerfällt in zwei Teile. Im ersten Teil geht es um Kelly Courter und seine Sicht, im zweiten um Sevilla, seine persönliche Geschichte und seine Perspektive. Der Autor zeichnet ein überaus düsteres Bild des heutigen Mexiko und sollte sich deshalb vielleicht in absehbarer Zeit dort nicht sehen lassen. Die Romanhandlung ist fiktiv, aber sie basiert auf der Tatsache, dass in Ciudad Juárez immer wieder Frauen für immer verschwinden oder irgendwann misshandelt und ermordet aufgefunden werden. Das Porträt der Polizei ist nicht sehr schmeichelhaft. Menschenrechte sind unbekannt. Unter dem Vorwand, die Drogenkartelle zu bekämpfen, kochen die meisten Polizisten ihr eigenes Süppchen. Sie sind bestechlich und decken Verbrecher. Deshalb werden - zumindest im Roman - die Verbrechen an den Frauen nicht ernsthaft untersucht und ihre Aufklärung sogar behindert. Alle sind zufrieden, wenn irgendwer irgendetwas unter Folter gesteht und dann im Gefängnis umkommt. Im Kampf um Gerechtigkeit gibt es keine Hoffnung, wenn Selbstjustiz die einzig mögliche Form von Gerechtigkeit ist.

Sam Hawkens Roman enthält unerträglich brutale und grausame Szenen  ("Noch mehr Tote in der Stadt der Toten". S. 289) , und ich kann dem Autor den höheren moralischen Zweck dieser Gewaltorgie nicht so ganz abnehmen. Das Buch eignet sich auf jeden Fall nicht für empfindliche Leser. Um dem Ganzen mehr Authentizität zu verleihen, streut Hawken vor allem im ersten Teil immer wieder spanische Brocken ein. Auf mich wirkt das allerdings keineswegs authentisch, vielmehr habe ich mich die ganze Zeit gefragt, wer dieses grotesk stümperhafte Spanisch zu verantworten hat. Insgesamt hinterlässt der Roman bei mir einen etwas zwiespältigen Eindruck, keineswegs Begeisterung.