Respekt

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alasca Avatar

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Kelly Courter, Ex-Boxer, Ex-Junkie, Exilant und Flüchtling vor Strafverfolgung in den USA, hat als einzigen Halt seine Freundin Paloma und den Traum, es noch einmal im richtigen Box-Business zu schaffen. Bis dahin hält er sich als Prügelknabe in Schauboxkämpfen und mit kleinen Drogendeals über Wasser. Als ihm diese letzte Hoffnung genommen wird, stürzt er erneut ab in die Drogensucht, und als er aus seinem wochenlangen Rausch aufwacht, ist Paloma verschwunden und er Verdächtiger Nummer eins. Er versucht, heraus zu finden, was mit ihr geschehen ist, aber niemand traut ihm genug, um ihm etwas zu erzählen. Als ihre übel zugerichtete Leiche gefunden wird, kassiert ihn die korrupte Polizei und versucht, ein Geständnis aus ihm heraus zu foltern.

Paloma war engagiert bei den Mujéres Sin Voces, den Frauen ohne Stimme, die hartnäckig die Erinnerung an die vielen verschwundenen Frauen wachhalten, für die sich die Behörden nicht zu interessieren scheinen. Diese Frauenmorde sind die Kulisse, vor der sich die Geschichte von Kelly abspielt. Und von Sevilla, einem Polizisten der alten Schule, der selbst Tochter und Enkelin verloren hat, als einziger an Kellys Unschuld glaubt und beginnt, nach Kellys Inhaftierung seinerseits zu ermitteln. Was er herausfindet, ist so abgründig, dass es einen schaudert.

Diese Geschichte ist nichts für Eskapisten. Die Lektüre versetzt einen in eine so schlimme Wirklichkeit, dass jede deutsche Realität dagegen rosarot erscheinen muss. Der Drogenbrennpunkt Juárez ist ein Ort, der der Hölle auf Erden gleicht. Jeder versucht, so gut er kann, über die Runden zu kommen, nicht jedem gelingt es. Wir haben es mit Helden zu tun, die keine sind – die sich schuldig gemacht haben und in fast jeder Weise, die möglich ist, gescheitert sind. Auch die sympathischeren Charaktere in dieser Geschichte sind kriminell – jeder mischt ein bisschen mit bei den Drogen, immer in Gefahr, von den großen Narcos abgestraft zu werden. Auch Paloma, neben Sevilla die einzige starke Figur im Roman, dealt mit Drogen – aber sie engagiert sich, sie ist stolz und unbeugsam, sie wird in ihrer Gemeinschaft respektiert, was ihr Einfluss verschafft, und doch kostet ihr Stolz sie das Leben.

Viele Vorrezensenten haben bemängelt, dass es in der Geschichte, entgegen dem Titel, der etwas anderes nahelegt, nur um Männer geht. Das stimmt. Wahrscheinlich wäre so mancher Autor der Versuchung erlegen, eine bluttriefende Geschichte gequälter Frauen zu erzählen. Stattdessen nähert der Autor sich indirekt – über diejenigen, die ihre Frauen, Töchter und Enkelinnen verloren haben. Für mich ist das ein Zeichen von Respekt (und Realismus) – es dürfte für einen Mann schwierig sein, sich in die Befindlichkeit vergewaltigter Frauen zu versetzen. Blut und Gewalt gibt es trotzdem reichlich, aber nicht, weil der Autor darin schwelgen möchte, sondern weil sie dramaturgisch nötig sind: Sie bilden die mexikanische Wirklichkeit ab. Auch aus anderer Sicht passt die männliche Sicht, denn die Feminicios, die Frauenmorde, werden von Männern begangen. De facto sind Frauen in der Welt der Narcotraficantes, die mit ihren gigantischen Geldströmen die ganze mexikanische Gesellschaft durchdringen, rechtlos. Fast jeder, der ihnen helfen könnte, ist gekauft worden. Jeder, der die falschen Fragen stellt, selbst innerhalb des Polizeiapparates, spielt mit seinem Leben. Für uns unvorstellbar. In Juárez Realität. Das alles schildert Hawken in klarer, schnörkelloser Sprache. Ich habe dieses Buch rasend schnell verschlungen. Viele starke Bilder daraus habe ich immer noch im Kopf – zum Beispiel den rosa gestrichenen Strommast, an dem all die Vermisstenanzeigen hängen, jede beginnend mit „Justicia por...“, Gerechtigkeit für, gefolgt von einem der schönen spanischen Frauennamen.

Der dramatische Showdown, der Justicia, Gerechtigkeit, herstellen soll, tut genau das nicht. Jedenfalls keine, die nachhaltig ist. Zurück blieb bei mir ein Gefühl äußerster Betroffenheit, denn dieses Buch ist nur zum Teil Fiktion. Dem Autor gebührt Respekt, dass er sich so für die realen toten Frauen von Juárez einsetzt. Schon deshalb sind diesem Buch viele Leser zu wünschen. Aber nicht nur. Sondern weil es ein sehr gelungenes Erstlingswerk ist. Ich bin gespannt auf das nächste Buch von Sam Hawken.