Eine amerikanische Tragödie

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Unter uns gesagt, war mir die Schriftstellerin Julie Clark kein Begriff. Nachdem mich die kurze Leseprobe auf Vorablesen begeistert hatte, gab es für mich kein Halten mehr. Ich wollte den Roman "Die unsichtbare Hand" unbedingt lesen - und ich bin nicht enttäuscht worden. Julie Clark erzählt von einer lange zurückliegenden Familientragödie, die dunkle Schatten auf die Überlebenden wirft.

Das zurückhaltende Cover ist in bräunlichen Farbtönen gehalten. Im Fokus steht ein schlichtes Holzhaus, wie man es in vielen ländlich gelegenen Orten in Kalifornien (USA) findet. Der deutsche Titel entspricht nicht dem amerikanischen Original, das mit der Bezeichnung "The Ghostwriter" klar den Beruf und den Auftrag von Olivia Dumont benennt. Dafür setzt er auf den/die großen Unbekannten, der für die grausamen Verbrechen verantwortlich ist, und spielt mit der Erwartungshaltung der Lesenden. Was ist seinerzeit geschehen? Oder ist der Titel als Anspielung auf einen unbekannten Schreibenden zu verstehen, der die berühmten Autor*innen tatkräftig unterstützt?

Der Roman spielt auf zwei zeitlichen Ebenen, in der Gegenwart (2024) und in der Vergangenheit (1975). Das Geschehen wird aus der Ich-Perspektive von Olivia Dumont vermittelt, welche von ihrem Vater, dem an Lewy-Körperchen-Demenz erkrankten Bestseller-Autor Vincent Taylor, für die gemeinsame Arbeit an seinem nächsten Buch engagiert worden ist. Tatsächlich handelt es sich um seine Memoiren, in denen er von dem nach wie vor ungeklärten Mord an seinen Geschwistern Poppy (14) und Danny (17) im Sommer 1975 erzählt, die ihm (zu Recht oder Unrecht?) in der Öffentlichkeit angelastet worden sind. Allerdings ist er niemals zur Verantwortung gezogen worden, aufgrund eines einwandfreien Alibis für die Tatzeit und fehlender Beweise für eine Anklage wegen Mordes. In Rückblenden kommen die 1975 brutal ermordete Poppy und der überlebende Teenager Vince (16) zu Wort.

Nicht zuletzt durch die Auswirkungen der lange zurückliegenden Familientragödie ist das Verhältnis von Vince und Olivia schwer belastet. Ihr Vater kann keine emotionalen Bindungen aufbauen, die Beziehung zu seiner Frau zerbricht unter der Last der Erinnerungen, der Anblick von Olivia erinnert ihn an seine einzige Schwester, die er viel zu früh verloren hat. Im Laufe des Geschehens kommen Vater und Tochter einander näher. Aufgrund seiner unheilbaren Krankheit (und aus Gründen des Selbstschutzes?) ist Vincent ein unzuverlässiger Erzähler, der Olivia wichtige Informationen vorenthält. Sie muss ständig zwischen den Zeilen lesen, um sich ihr eigenes Urteil in diesem komplizierten Fall bilden zu können. Entschlossen rollt sie den cold case auf eigene Faust auf, um mit wichtigen Zeug*innen zu sprechen, die lange zurückliegenden Ereignisse zu rekonstruieren und streng gehütete dunkle Geheimnisse ans Tageslicht zu holen. Die Aufklärung des Verbrechens ist erschütternd. Endlich weiß Olivia um die Verstrickungen ihrer Eltern in das ungesühnte Verbrechen, die dunkle Schatten auf ihr weiteres Leben geworfen haben. Dennoch kann sie ihren Frieden mit der Vergangenheit machen. Dank ihrer Recherchen (und Beweise) kann der wahre Täter zwar nicht für die begangenen Morde, aber für andere Taten zur Rechenschaft gezogen werden.

Für mich war Julie Clark eine literarische Entdeckung. Dieses Buch ist ein absolutes Highlight, und ich kann es allen Lesenden empfehlen, die spannende, tiefgründige Psychothriller mit unerwarteten Wendungen schätzen, die kleine Einblicke in die (vermeintlich) heile Welt von amerikanischen Familien erlauben.