Trauma - Ist mein Vater ein Mörder?

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odile Avatar

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Olivia Dumont verdient ihren Lebensunterhalt als Ghostwriter. Nach einigen erfolgreichen Jahren hat sie eine Verleumdungsklage in gravierende finanzielle Schwierigkeiten gebracht. Da kommt der Auftrag, für den Bestsellerautor Vincent Taylor ein Buch zu schreiben, gerade rechtzeitig. Nur die Tatsache, dass der Schriftsteller Olivias ungeliebter Vater ist, den sie seit vielen Jahren meidet, lässt sie zögern. Als sie erfährt, dass Vincent das seit fünfzig Jahren bestehende Geheimnis über den Mord an seinen Geschwistern Poppy und Danny lüften will, nimmt sie den Auftrag an. Olivia ahnt nicht, worauf sie sich einlässt.

Mit „Die unsichtbare Hand“ ist Julie Clark eine spannende Mischung aus Familiendrama und Krimi gelungen. Die in den Jahren 1975 und 2024 spielende Erzählung hat mich rasch in ihren Bann gezogen. Clark erzählt in zunächst ruhigen Bildern, wie ein Trauma eine ganze Familie prägen, ja zerstören kann. Schon als Zehnjährige wird Olivia von ihren Mitschülern mit der Aussage konfrontiert, dass ihr Daddy seine Geschwister ermordet habe. Ein konventionelles Familienleben ist unter diesen Umständen nicht möglich. Die Ehe der Eltern zerbricht früh, Olivia landet schlussendlich im Internat. Die entstandenen Risse in der Vater-Tochter-Beziehung lassen sich nicht mehr kitten. Angetrieben von der Tatsache, dass dies die letzte Gelegenheit sein wird, die Wahrheit zu erfahren, Vincent ist an Lewy-Körperchen-Demenz erkrankt, stellt sich Olivia einer Situation, die sie über 20 Jahre lang vermieden hat.

Julie Clark schreibt präzise und bildhaft. Anrührend fand ich die Szene, in der Vincent Olivia, eine Schachtel voller Erinnerungsstücke an sie übergibt, die er gehütet hat. Dabei glaubte sie, dass er sie nicht vermisst hat.

Das langsame Erzähltempo, vor allem im Mittelteil, gibt dem Leser Zeit und Gelegenheit, die Protagonisten und die damaligen Umstände kennenzulernen. Der Autorin ist es sehr gut gelungen, die Atmosphäre einer Kleinstadt in den 1970er Jahren einzufangen. Die Geschichte wird auf zwei Zeitebenen und aus verschiedenen Perspektiven (Olivia, Vincent, Poppy) erzählt, was den Protagonisten Tiefe verleiht.

Clarks Charaktere haben mich überzeugt. Sie wirken lebendig und authentisch. Vincent, der auf beiden Zeitleisten eine wichtige Rolle spielt, ist schwierig, schnell wütend, unsicher. Nach dem Tag X hält er das Leben bald nur noch mit Alkohol und Drogen aus. Tochter Olivia fordert die Wahrheit ein, muss aber erkennen, dass sie dieselbe Geheimnistuerei pflegt wie Vincent. Mein Liebling ist die kluge Poppy, die nicht versteht, warum Jungs nichts über Hauswirtschaft zu wissen brauchen und Schulleiter meist männlich sind. Eine Dreizehnjährige, deren Posterhelden, Frauenaktivistinnen, wie Gloria Steinem und Betty Friedan sind, die in den 1970er Jahren Furore machten.

Der Kriminalfall beschwört einige beklemmende Szenen, bis letztendlich nach einigen Wendungen ganz unspektakulär die Auflösung erfolgt.

Fasziniert hat mich an der Erzählung ihre Vielschichtigkeit. Wie entsteht ein Familientrauma und was bewirkt es? Wirkt es bis in die nachfolgenden Generationen? Wie zuverlässig ist unser Gedächtnis? Sind unsere Erinnerungen immer wahr oder möglicherweise durch Voreingenommenheit beeinflusst? Vincent hat damit naturgemäß Schwierigkeiten, da er an Demenz erkrankt ist. Aber auch Olivia muss erkennen, dass sie manches vergessen hat, sich an anderes falsch oder verzerrt erinnert. Dazu kommen das ungeklärte True Crime Thema und die spannende Vater-Tochterdynamik. Erwachsene spielen in diesem Buch, zumindest im Zeitstrang von 1975, eine Nebenrolle. Die Bühne gehört den Heranwachsenden.

Mich hat das Buch sehr gut unterhalten und ich empfehle es allen Fans von Familiendramen.