Die Unvollendete

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jiskett Avatar

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Cover:
Das Cover ist sehr stimmig und wirkt ruhig. Im Himmel türmt sich eine riesige Wolkenwand auf, der Vordergrund ist in einem dunkleren Blau gehalten. Vor dieser Kulisse steht eine Frau, die vor dem gewaltigen Hintergrund sehr klein wirkt. Sie blickt ins Leere, in die Ferne. Insgesamt scheint das Cover sehr gut zum Titel, "Die Unvollendete", zu passen.

Meinung:
Der Prolog ist bereits sehr spannend. Er beginnt unscheinbar, ruhig. Eine gewisse Idylle wird beschrieben. Wer rechnet schon damit, beim harmlosen Kaffeetrinken von einer Frau mit den Worten "Führer, für Sie." erschossen zu werden? Besser gesagt, wer rechnet überhaupt damit, dass bei Kaffee und Kuchen geschossen wird? Dass alle Männer bei Tisch bewaffnet waren, steigert die Neugierde des Lesers. Was ist hier los, dass alle bewaffnet bei Tisch erscheinen und Morde begangen werden? Dass die Geschichte im Jahr 1930 spielt, bringt keinerlei Klarheit, gerade, da man mit "Führer" eher eine Zeit nach 1933 assoziiert...

Sofort verlassen wir das Jahr 1930 und finden uns im Februar 1910 wieder.
Ein Kind kommt tot zur Welt - und wieder endet das Kapitel mit "Ein einziger Schuss. Es wurde dunkel."

Nun wird es aber erst völlig verwirrend: Im nächsten... Kapitel? sind wir wieder am gleichen Tag. Nun scheint das Kind zu leben, weil der Arzt gerade noch rechtzeitig ankam, um die Nabelschnurr, die sich um den Hals des Kindes wickelte, zu durchtrennen...
Die Figuren sind die gleichen, das Datum ist exakt das gleiche, beiden kurzen Abschnitten ist das Wort Schnee vorangestellt. Nur ist die Stimmung vollkommen anders. Die erste Version beginnt bereits mit düsteren Worten über ein ertrinkendes Mädchen, in der zweiten Version ist Sylvie trotz ihres Grolles auf den Arzt glücklich über die Geburt ihres dritten Kindes und wir erfahren ein kleines bisschen mehr über die handelnden Personen.

Endgültig interessant wird die Geschichte, als Sylvie ihren Kindern erklärt, sie werde ihre Tochter Ursula nennen - denn schließlich wissen wir aus der Inhaltsangabe, dass Ursula der Name der Protagonistin ist, die in der Lage ist, ihr Leben zu korrigieren...
Unter diesem Hintergrund ist die erste Variation ganz besonders bemerkenswert. Bereits ihre Geburt konnte sie korrigieren? Warum?
»Der liebe Gott wollte dieses Baby unbedingt zurückhaben« - sicher? Wenn sie diese Gabe wirklich besitzt, erscheint es eher, als wolle jemand unbedingt, dass sie gegen die Natur überlebt...

Die Jahre vergehen und Ursula ist jetzt vier Jahre alt. Die Familie verbringt eine kleine Auszeit am Meer. Ursula geht mit ihrer Schwester schwimmen - doch plötzlich geht sie unter. Niemand hilft ihr... "Es wurde dunkel."

- und wir sind wieder am Tag nach Ursulas Geburt. Sylvie macht sich Gedanken, unter anderem darüber, wann der Tod Rache dafür nehmen würde, dass ihm das kleine Baby durch die Lappen gegangen war. Diesen Gedanke finde ich durchaus berechtigt, wenn man nur an das Kapitel denkt, in dem Ursula ertrinkt...

Langsam kristallisiert sich ein Muster heraus. Wir springen von 1910 auf 1914, stirbt Ursula, geht es zurück nach 1910, dann wieder auf 1914, wo sie überlebt.
Das Muster setzt sich aber nicht mit einem weiteren Tod fort. Die Erzählung läuft normal in 1914 weiter und endet mit einem für Kinder gewiss sehr verstörenden Bild: Kaninchen, die vom Fuchs zerrissen wurden- sehr symbolisch, wenn man bedenkt, dass das Haus der Familie "Fox Corner" heißt.
Die Köchin ist mir übrigens, ebenso wie sie es Sylvie ist, sehr unsympathisch!

Insgesamt ist die Leseprobe sehr ungewöhnlich, vor allem lang, aber keine Seite langweilig, sehr interessant und faszinierend.
Die sprunghafte Erzählform ist zunächst verwirrend, durchschaut man aber das Muster dahinter, wird es spannend. Die ganzen möglichen Varianten, die verhindert werden und doch nicht eintreten, so aber hätten passieren KÖNNEN, ohne dass sich jemand erinnert... ein faszinierender Gedanke. Gut möglich aber, dass man nach einer Weile Probleme damit hat, zwischen Realität und "was wäre wenn" zu unterscheiden.

Der Schreibstil von Atkinson ist sehr fesselnd und eindringlich, ihre Charaktere sind nicht platt, sondern sehr unterschiedlich und dabei interessant.
Die Leseprobe macht auf jeden Fall neugierig. Wie wird ein Leben verlaufen, in dem man alles rückgängig machen kann? Kann man glücklich werden, wenn man jeden Fehler ausbügeln kann? Wird geklärt, woher diese... Gabe kam? Wird Ursula sie bewusst einsetzen oder unterbewusst? Wie wird ihr Leben enden?
Von dieser faszinierenden Idee würde ich gerne mehr lesen.