Serial Death

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theresia626 Avatar

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In Kate Atkinsons neuem Roman “Die Unvollendete” (Originaltitel: Life After Life) geht es um Sylvie Todd und ihre Familie, speziell um ihre Tochter Ursula. Sylvie und ihre Mutter standen nach dem plötzlichen Tod des Ehemanns und Vaters, eines berühmten Malers, völlig mittellos da. Rettung nahte in Gestalt von Hugh Todd, einem Banker mit guten Zukunftsaussichten, den das Mädchen an seinem 18. Geburtstag heiratet. Damit ist ihre Existenz gesichert. Von Liebe ist allerdings nicht die Rede. Sie bekommt die Kinder Maurice und Pamela und drei Jahre danach, am 11. Februar 1910, die Tochter Ursula. Das Baby stirbt allerdings bei der Geburt, weil Arzt und Hebamme im Schnee steckenbleiben. Dann beginnt alles von vorn. Der Arzt schneidet rechtzeitig die um den Hals gewickelte Nabelschnur durch, und Ursula überlebt. Damit ist das Muster für den Roman vorgegeben. Immer wieder stirbt Ursula und kommt wieder, stirbt und kommt wieder. Der Satz “Es wurde dunkel” kennzeichnet ihr Ableben. Danach nimmt die Handlung einen anderen Verlauf. Im Alter von vier Jahren ertrinkt sie in Cornwall, in der geänderten Variante wird sie gerettet. Im prologartigen Romananfang ist sie 20 Jahre alt und verübt in einem Münchner Café ein Attentat auf Hitler, bei dem sie selbst erschossen wird.
Atkinsons neuer Roman ist ungewöhnlich und völlig anders als ihre vorhergehenden acht Bücher. Die Autorin setzt die übliche stillschweigende Übereinkunft zwischen Autor und Leser außer Kraft, die besagt, dass die Dinge, die den Figuren widerfahren, auch tatsächlich geschehen. Hier gelten neue Regeln. Nicht nur die Zukunft ist ungewiss, sondern auch die Vergangenheit. Atkinson zeigt, dass ein Autor unbegrenzte Möglichkeiten hat, auszuwählen und Entscheidungen zu treffen. Letztlich wird dadurch auch der Schreibprozess selbst zum Thema. Ein Konzept wie das von Atkinson setzt einen Leser voraus, der bereit ist, sich auf das virtuose Jonglieren mit alternativen Lebenswegen einzulassen, denn darum geht es, nicht um Sterben und Tod. Ohnehin weiß man bald, dass Ursula nach jedem Ableben wieder aufersteht und ein langes ereignisreiches Leben hat.
Die Unvollendete lässt sich auch deshalb nicht einfach konsumieren, weil die Autorin nicht chronologisch erzählt, sondern mit Zeitsprüngen und Rückblenden. Sprachlich ist der Roman sehr anspruchsvoll, was auch in der Übersetzung erkennbar ist. Es gibt poetische Beschreibungen wie zum Beispiel von Ursulas Erstickungstod (S. 15), aber auch überraschend witzige Wendungen und Dialoge.
Mir gefällt die Leseprobe außerordentlich gut und ich rechne mit einem bis zur letzten Seite interessanten, packenden Roman, der im übrigen in Großbritannien, den USA, Australien und Neuseeland bereits ein Bestseller ist.