Fortsetzung, die auch als Stand-alone funktioniert

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waterlilly Avatar

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Letztes Jahr hatte ich mit Begeisterung „Ein Teil von ihr“ gelesen und war deswegen erfreut und gleichermaßen überrascht, als ich gesehen habe, dass Karin Slaughter eine Fortsetzung geschrieben hat. Fortsetzung ist hier allerdings in Anführungszeichen zu setzen, denn beide Bücher funktionieren auch sehr gut als Stand-alone. Es sind nicht unbedingt Vorkenntnisse erforderlich um „Die Vergessene“ zu verstehen, da eine andere Geschichte erzählt wird.
Die einzige Parallele ist, dass wir erneut auf Andrea Oliver treffen, die junge Dame, die in „Ein Teil von ihr“ hinter die düstere Vergangenheit ihrer Mutter kommt. Zwischenzeitlich hat sie eine Ausbildung zum US-Marshall gemacht. Karin Slaughter gibt hier interessante Einblicke und Erklärungen zu diesem Berufsfeld, so dass auch nicht amerikanische Leser – wie ich – sich etwas darunter vorstellen können.
Gleich bei ihrem ersten Einsatz wird Andrea damit betraut, eine Bundesrichterin, die Morddrohungen erhält, zu beschützen. Für Andrea ist dieser Auftrag vor allem ein Vorwand, um in der Vergangenheit zu graben, vermutet sie doch, dass die Enkelin der Richterin ihre Halbschwester sein könnte. Sie will um jeden Preis verhindern, dass ihr Vater aus dem Gefängnis entlassen wird. Hierzu muss sie beweisen, dass Clayton Judiths Mutter Emily brutal ermordet hat.
In Rückblicken wird das Schicksal von Emily aufgerollt. Ein junges Mädchen, dem die Welt offen stand, bis ihr eine Party zum Verhängnis wird.
Die Kapitel über Emily haben mich sehr schnell mitgerissen, da ich es einfach nicht fassen konnte, welches Unrecht ihr angetan wurde. Sie ist ein lieber, hilfsbereiter Teenager, der leider in einem Freundeskreis mit völlig toxischen Leuten gefangen ist. Als sie unter Drogeneinfluss mit 17 Jahren schwanger wird, beginnt eine Hexenjagd. Es hat mich zutiefst schockiert, mit welchem Hass die Leute auf die Schwangerschaft reagierten. Nicht nur von ihren Mitschülern, auch Eltern, Lehrer und Ärzte verhalten sich völlig respektlos und demütigend. Ich weiß nicht, ob dies für das Amerika der 80er Jahre ein übliches Gebaren oder eine überspitze Darstellung war, auf jeden Fall ging es mir sehr nah und ich habe mit Emily mitgelitten, da sie überhaupt nichts falsch gemacht hat und trotzdem bestraft wurde.
Bei der Gegenwartshandlung ist es mir etwas schwerer gefallen hineinzukommen, da sie am Anfang ein paar Längen hat und etwas dahinplätschert. Bis zu dem Moment, als der Knoten platzt und ich das Buch kaum noch aus der Hand legen konnte. Neben dem Fall mit der Bundesrichterin und dem Cold Case geht es in Andreas Handlungsstrang auch noch um eine Sekte. Geschichten über Sekten faszinieren mich immer wieder und diese hier kam mir besonders ominös vor.
Wer definitiv das Buch rockt, ist Andreas Partner Leonard Bible. Ein US-Marshall, dem man durch seine vielen Witze und sein flapsige Art zunächst nicht so viel zutraut, der sich aber schnell als ausgesprochen kompetent und kollegial herausstellt. Bible macht das Buch kurzweilig und ist ein Charakter, von dem ich gerne noch mehr lesen würde.
Am Ende kommen alle Handlungsstränge zu einer logischen und runden Auflösung zusammen.
Ich habe „Die Vergessene“ richtig gerne gelesen. Ich weiß nicht, ob Karin Slaughter jetzt mit Andrea Oliver fertig ist, aber da sie die Büchse nun geöffnet hat, würde ich mir wünschen, dass es einen dritten Band und ein großes Finale gibt, bei dem Andrea und ihr Vater persönlich aufeinander treffen.