Aufwühlende Frage nach Schuld und Sühne

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nicky_g Avatar

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Wen interessierten die Verbrechen von damals noch? Falsche Frage, dacht er. Die richtige lautete: Wem konnten sie heute noch gefährlich werden? (S. 175)

Die Journalistin Vera Mändler ist unzufrieden mit ihrer Arbeit bei einer Frauenzeitschrift, als ihre Tante einen Schlaganfall erleidet, während Veras Cousin gerade bei ihr gewesen ist. Anscheinend hat er sie um Geld angepumpt. Als Chris umgebracht wird, ist Veras Neugier geweckt, denn er hat wohl jemanden erpresst. Dabei begibt Vera sich in große Gefahr, denn die Taten, die verdeckt bleiben sollen, reichen zurück bis in die Zeit des Dritten Reiches und die Übeltäter haben starke Verbündete.

Zeitgleich wird Manolis Lefteris, der als Spezialist für Fälle gilt, bei denen die Justiz versagt hat, auf das Dossier angesetzt, dass Chris als Mittel zur Erpressung genutzt hat. Wer wird als erstes fündig werden?

Zwei Erzählstränge verlaufen einige Zeit parallel, bis sie langsam beginnen, sich miteinander zu verweben. Dabei ist der Leser vor allem Vera mit seinem Wissen einen Schritt voraus und fiebert mit ihr, was passieren mag, wenn sie zu tief in der Vergangenheit – nicht nur der ihrer Tante – wühlt.

Die Charaktere werden sympathisch und bodenständig gezeichnet, haben alltägliche Probleme und eine Vergangenheit, die in wenigen Sätzen dargestellt wird. Gerade dies gibt Profil und eine komplexere Dimension der Personen und auch der Atmosphäre, die treffend beschrieben ist und unmittelbar in die Geschichte entführt. Dabei fehlt es auch nicht an kuriosen Figuren wie zum Beispiel der IT-Spezialisten Rebecca.

Die Wortwahl nimmt den Leser direkt gefangen, vermittelt Gefühle deutlich, ohne dabei kompliziert oder schwer zu wirken, allerdings ist sie – gerade zum Ende hin – stellenweise etwas zu plakativ und gewollt mitleidheischend. Manchmal werden bewusst schockierende Schlüsselwörter gewählt, die den Leser reizen sollen und es auch tun.

Kleinere Unstimmigkeiten, beispielsweise wird Adele als Kathrins Freundin bezeichnet, was keinesfalls stimmt (S. 66 bzw. 72f.), oder die Zeiten werden durcheinander gewürfelt (S. 305 ist ein Pharmaunternehmen im achtundneunzigsten Jahr, wurde aber 1905 gegründet, während im Klappentext der Roman 2013 spielt), stören den Lesefluss nicht.

Die Aufarbeitung gerade dieser Vergangenheit ist nicht einfach. Auch Vera wünscht sich, dass Kathrin nichts mit dem Töten der Behinderten zu tun gehabt hatte. Hatte sie etwa geholfen? Möchte man wirklich immer die Vergangenheit durchleuchten und vielleicht auf etwas stoßen, dass das eigene Bild eines Menschen zerstört? Darf man vergessen?

Die Vergangenheit in zwei unterschiedlichen Ansätzen anhand der beiden Familiengeschichten einzufangen, ist anschaulich und mitreißend gelungen, vor allem die Behandlung von Schuld und Sühne bis heute.