Ein sich hervorragender lesender, ereignisloser Roman

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„Die Verletzlichen“ beginnt vielversprechend: Ein paar Freundinnen, die sich seit dem Studium kennen und sich aufgrund des ersten Todesfalls in ihrer Clique seit langem einmal wiedersehen, kommen miteinander in Gespräch. Kurz danach beginnt die Corona-Pandemie. Die Ich-Erzählerin findet sich im verlassenen New York City wieder und zieht kurzerhand zu einem Papageien in ein Nobel-Apartment, da die Besitzerin - die Bekannte einer Freundin - aufgrund des Reiseverbots nicht von einem Besuch bei ihren Eltern an der Westküste zurückkommen kann.

Und dann beginnt, was wir bereits aus andere Büchern der Autorin Sigrid Nunez kennen: ein ziemlich ereignisloser Text. Im Falle von Nunez Schreibkünsten ist dies jedoch alles andere als tragisch. Der Roman beschäftigt sich viel mit dem Innenleben einer Frau Mitte 60, ist nachdenklich und hat zeitgleich sehr unterhaltsame Passagen. So wohnt die Ich-Erzählerin in dem Nobel-Apartment plötzlich unfreiwillig mit einem jungen Mann zusammen, der sich - statt sein fast fertiges Studium abzuschließen - lieber mit sich selbst beschäftigt. Mit seiner jugendlichen Attraktivität hält er ihr - der alternden Ich-Erzählerin - den Spiegel vor.

Durch die Einschübe über Literatur werden sich besonders leidenschaftliche lesende Menschen angesprochen fühlen.

„Nur in meiner Jugend glaubte ich, dass ich mich an alles erinnern. müsste, was in jedem Roman passierte, den ich las. Jetzt kenne ich die Wahrheit: Wichtig ist, was man während des Lesens erlebt, die Gefühlszustände, die eine Geschichte hervorruft, die Fragen, die einem dazu einfallen, und nicht die fiktionalen Ereignisse, die geschildert werden.“ (Seite 9)

Und so ist es auch in „Die Verletzlichen“ - nach dem Lesen kann man sich vielleicht nicht mehr an jedes Detail erinnern. An was wir uns erinnern können, ist aber das Gefühl, welches der Roman widerspiegelt, und das wir alle 2020 kennenlernen mussten. Das Gefühl von einer Langsamkeit, in der gleichzeitig so viel im Inneren passiert. Und alleine, um uns mit dem jetzigen Abstand an diese Zeit zu erinnern, sie vielleicht auch ein Stück weit zu verarbeiten, lohnt es sich, die knapp 220 Seiten zu lesen.