Kann ein Leben still stehen?

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gerwine ogbuagu Avatar

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Schon zu Anfang möchte ich sagen: „Die Verletzlichen“ ist eines der wenigen Bücher, die ich gleich wieder gern nochmals von vorne an lesen möchte. Es enthält so viel Spannendes und Ungewöhnliches. Es ist ein Roman, aber einer, der genau das enthält, was einen Roman ausmacht: Viele verschiedene Arten der Literatur nämlich. Teilweise liest er sich wie ein Essay. Später wird einem klar, dass die Zeit in der die Handlung spielt die der Pandemie ist.
Es fängt schon ganz besonders an. Allein der Einband – wir erkennen einen umgekehrter Papagei – einen Ara namens Eureka - und ein rosa Blumenbouquet. Stellt Eureka vielleicht die Welt auf den Kopf? Nunez Beobachtungen sind so vielfältig und besonders, dass das Lesen ihrer Texte zu einem reinen Vergnügen wird. Sie streut Beispiele aus der Literatur ein: Charles Dickens, Oscar Wilde, Rilke, Sylvia Plath- ihre vielfältigen, wie es scheint, unerschöpflichen - Beobachtungen und Statements faszinieren. Ihre Beobachtungen schon am Anfang, die Aufzählungen von Blumen, deren Farben und deren Bedeutung – warum bringt man Hortensien mit Altern in Verbindung am Beispiel von Madonna, die beleidigt war, als ihr ein Verehrer eine Hortensie überreichte – sind einfach faszinierend. Der Text erscheint so. als ob Erinnerungen an die Kindheit, an Schulkameraden, an ihre Mutter, an Lehrer und Lehrerinnen aneinandergereiht werden. Man findet sich wieder in diesen sensiblen Beschreibungen der vielen Charaktere. Wie belanglos hingeworfen erscheinen die Sätze, doch sie haben einen tiefen Sinn, den man erkennt, je mehr man weiterliest. Nunez Betrachtungen enthalten philosophisches wie z. B. die Ausführungen über Blumen und ihre Namen: Ist es Zufall, dass die Namen von Blumen auch immer wunderschöne Wörter sind? Rose. Veilchen. Lilie. So attraktive Namen, dass die Menschen sie ihren Töchtern geben. Jasmin. Iris.
Dieser Text liest sich sehr spannend und ungewöhnlich.
Ihre Beziehung mit Eureka ist so wunderbar beschrieben, dass es anrührt. Man möchte diesen hellgrünen Papagei kennenlernen. Nicht nur das, man erfährt sehr viel darüber, wie es sich anfühlt, sich auf Tiere einzulassen, von ihnen zu lernen und zu beginnen, sie zu lieben.
Ich finde Nunez‘ Erzählweise ideal. Sie spricht für den kurzen Roman. „Der traditionelle Roman hat seinen Platz als wichtigstes Genre unserer Zeit verloren“, schreibt sie. Gerade die Einschübe, die Reflektionen über so viele Themen flicht sie wie zufällig ein, springt von einem zum anderen Thema und doch gehört alles zusammen. So wie sie scharfsinnig die Themen behandelt und über sie spricht, ist es vielleicht sogar besser, als eine ganze zusammenhängende Geschichte zu erzählen. Was sie selbst aber in diesem großartigen Text tut.