Spurensuche in Schlesien

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern
dorli Avatar

Von

„Die Verlorene“ ist eine fiktive Familiengeschichte, deren tragische Handlung in den letzten Jahren des Zweiten Weltkriegs ihren Anfang nimmt. Das militärische Kampfgeschehen bleibt größtenteils im Hintergrund, denn in diesem Roman geht es um die Schrecken, die der Krieg und die nationalsozialistische Ideologie auf einem abgelegenen Gutshof angerichtet haben. Es geht um tiefgreifende Ereignisse, die eine Familie fest zusammenschweißen oder eben auch für immer zerreißen können.

Frankfurt, 2019. Die 93-jährige Änne bekommt ein Gemälde aus ihrer alten Heimat Schlesien zugeschickt. Das Bild versetzt sie mächtig in Aufruhr. Bei dem Versuch, eine Kiste mit Erinnerungsstücken aus dem oberen Schrankfach zu heben, stürzt sie schwer und fällt in ein Koma, aus dem sie nicht mehr erwachen wird.

Als Laura die nach dem Sturz verstreuten Sachen ihrer Großmutter aufräumt, entdeckt sie alte Dokumente, Fotos und Briefe, die sie stutzig machen. Änne hat Fragen über ihre Herkunft immer abgeblockt und nur wenig aus ihrem früheren Leben erzählt. Wenn Laura ihren Fund richtig deutet, scheint das Wenige, das Änne erwähnt hat, allerdings nur aus Lügen und Halbwahrheiten bestanden zu haben. Laura und auch ihre Mutter Ellen sind fassungslos. Beide wollen Antworten und so machen sich erst Laura und dann auch Ellen auf den Weg nach Schlesien, um Licht in das Dunkel rund um ihre Familiengeschichte zu bringen.

Ein zweiter Handlungsstrang spielt in den 1940er Jahren in Schlesien auf dem Pappelhof, einem Gutshof mit Pferdezucht. Hier lerne ich die 17-jährige Änne Thomke und ihre Zwillingsschwester Luise kennen. Die beiden stehen sich sehr nah - eine Nähe, die ihr Schicksal im Verlauf der Handlung auf verhängnisvolle Weise bestimmen wird.

Was für eine Geschichte! Ich war schon nach wenigen Seiten von den Ereignissen gefesselt. Das Geschehen ist sowohl im zeitgenössischen wie auch im historischen Part mit vielen Details gespickt, so dass beide Welten vor meinen Augen schnell lebendig geworden sind. Alles wirkt echt und greifbar. Ich habe nicht nur gespannt verfolgt, wie Laura immer tiefer in die Vergangenheit eintaucht und Stück für Stück ihre Familiengeschichte aufblättert, auch das herausfordernde Leben auf dem Pappelhof in den letzten Kriegsjahren hat mich schnell eingefangen und bis zum Schluss nicht mehr losgelassen.

Miriam Georg versteht es ganz ausgezeichnet, ihre Charaktere authentisch und lebensnah dazustellen. Änne und Luise, Laura und Ellen - vier Frauen, drei Generationen. Es hat mir wahnsinnig gut gefallen, wie die Autorin mich in die Gedanken und Emotionen ihrer Figuren mitgenommen hat. Ich bin willensstarken Frauen begegnet, die ihre Ecken und Kanten haben. Ich konnte die Wege, die sie gegangen sind, nachvollziehen. Konnte ihre Ängste und Sorgen spüren. Habe die alltäglichen Herausforderungen, die einschneidenden Entbehrungen und die herben Verluste miterlebt. Konnte an ihrem Miteinander und an ihrem Gegeneinander teilhaben. Ich konnte durchweg mit ihnen mitfiebern und war stets neugierig darauf, was wohl als nächstes passieren würde.

Wenn ich über diese tragischen Schicksale lese und darüber nachdenke, wie grausam besonders Umsiedlung und Vertreibung für die Betroffenen gewesen sein müssen, dann wundert es mich nicht, dass viele Menschen der Kriegsgeneration über das Erlebte und Erduldete schweigen bzw. geschwiegen haben. Ich habe großes Verständnis für diejenigen, die ihre Erinnerungen nicht teilen wollen, weil es für sie einfach zu schmerzhaft wäre, die Erfahrungen und Emotionen gedanklich noch einmal durchleben zu müssen.

„Die Verlorene“ hat mich von der ersten bis zur letzten Seite fest im Griff gehabt - eine realitätsnah erzählte, tiefgründige Familiengeschichte, die voller aufwühlender Momente ist und auch nach dem Lesen noch lange nachklingt. Absolute Leseempfehlung!