Die Fehlbarkeit der Justiz

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Frank Petersen ist Strafrichter aus Leidenschaft. Nach seiner Überzeugung ist das Recht unfehlbar. Er hält sich selber für objektiv und gerecht, bis er plötzlich erneut mit einem Fall konfrontiert wird, der seine Prinzipien ins Wanken brachte. Vor fünf Jahren hat eine Mutter den rechtsradikalen Mörder ihres Sohnes im Gerichtssaal erschossen. Petersen war damals der Richter und konnte das finale Urteil nicht mehr verkünden. Corinna Maier musste stattdessen fünf Jahre ins Gefängnis. Inzwischen hat sich der Jurist eine Auszeit genommen. Seine Unfehlbarkeit ist in Frage gestellt worden und nach einer Verurteilung hat sich sogar seine Familie von ihm abgewandt. Petersen sieht seine Chance, indem er mit Corinna Maier ein Gespräch führt. Aus dem geplanten Gespräch werden mehrere, die die Wahrheit der Dinge in ein ganz anderes Licht rücken.

Markus Thiele kombiniert in diesem Roman zwei reale Justizfälle, die seinerzeit in der Presse große Aufmerksamkeit erregten: 1981 erschoss Marianne Bachmeier den mutmaßlichen Mörder ihrer Tochter im Gerichtssaal vor der Urteilsverkündung und 1990 attackierte eine Gruppe Rechtsradikaler einen Schwarzafrikaner. Diese beiden Fälle bilden die Grundlage für den Roman und die Erlebnisse für die fiktive Corinna Maier. Diese muss aus nächster Nähe mit ansehen, wie ihr Lebenspartner aufs Schlimmste misshandelt wird und wenig später an den Verletzungen stirbt. Wenige Tage später bringt sie den gemeinsamen Sohn zur Welt und zieht ihn allein groß. Der Mörder bekam ihrer Meinung nach eine zu geringe Strafe. Als ihr Sohn mit nur elf Jahren dasselbe Schicksal wie sein Vater erfährt, will sie unbedingt Gerechtigkeit. An diesem Punkt muss man unweigerlich nachdenken, wie man selber Rechtsprechung und Selbstjustiz einstufen würde. Als Mutter kann ich es nachvollziehen, dass man den Mörder des eigenen Kindes nicht mehr fröhlich sehen will. Auf der anderen Seite sollte man sich auch nicht auf dieselbe Stufe wie der Mörder begeben.

Die Summe ihrer Unwahrheit ergibt die Wahrheit der Dinge
Zwei liebe Angehörige so früh zu verlieren ist schon schlimm genug. Thiele schreibt sachlich, aber umfassend von den jeweiligen Perspektiven. Man kann sich als Leser stets ein Bild machen, welche Beweggründe seine Figuren vorantreiben. Petersen hält sich an die Gesetze, wenn er Täter verurteilt. Es überrascht ihn, dass ihn seine Familie für selbstherrlich und überheblich hält. Er stellt doch nur die Gerechtigkeit wieder her, wenn jemand Unrechtes getan hat. Er wäre auch gerne ein guter Vater und liebender Ehemann. Seine Motive sind jedenfalls redlich. Die Wirkung auf andere scheint er nicht wahrzunehmen. Themen wie Rechtsextremismus, Vorurteile und Selbstjustiz treten in den Dialogen mit seiner ehemaligen Angeklagten deutlich hervor. Die Beschreibungen demonstrieren außerdem, dass auch Richter fehlbar sind, auch wenn sie aus aufrichtigen Motiven handeln. Ein verhängtes Urteil betrifft auch immer andere Menschen.

Nach Das Echo des Schweigens ist Die Wahrheit der Dinge der zweite Roman von Markus Thiele. Der Jurist verwebt Fiktion und Realität und schafft damit Denkanstöße über die Deutsche Rechtsprechung. Das Stringente der Gesetzgebung passt oft nicht zur Menschlichkeit und lässt unzählige Möglichkeiten für eine Entscheidung. Die weibliche Hauptfigur musste unsagbar viel Leid ertragen und wird daher eher verschlossen beschrieben. Der zweifelnde Richter ist ebenfalls plausibel gezeichnet. Die Thematik ist nichts für einen unterhaltsamen Nachmittag, sondern lässt den Leser immer wieder nachdenklich und reflektierend zurück. Von mir bekommt das Buch eine Leseempfehlung.