Ein Richter im Kreuzfeuer der Kritik

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dorli Avatar

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Hamburg, 2015. Frank Petersen ist mit Leib und Seele Strafrichter. Er war bisher davon überzeugt, dass er seine Arbeit gut und richtig macht, wenn er durch sachliches und professionelles Prüfen der Fakten und Tatbestände die Wahrheit ans Licht bringt und dann entsprechend der Gesetze urteilt. Er glaubte bisher fest an die Objektivität seiner Urteile. Dass der Bundesgerichtshof in den letzten zwei Jahren vier seiner Urteile wegen mangelnder Tatsachenfeststellung aufgehoben hat, traf ihn hart. Als er jetzt mit einem weiteren umstrittenen Urteil in die Kritik gerät und sogar seine Familie sich mit den Vorwürfen, er wäre überheblich, gefühlskalt und lasse sich von Vorurteilen leiten von ihm abwendet, gerät seine Welt vollends ins Wanken. Petersen beginnt, seine Denkweise zu hinterfragen. Als Auslöser für seine Krise sieht er einen vor fünf Jahren erlittenen Schock, als er während einer Verhandlung nicht achtsam genug war…

Corinna Maier hat durch rechtsextreme Gewalt die Liebe ihres Lebens verloren – 1990 wurde der Vater ihres damals ungeborenen Sohnes brutal zu Tode geprügelt. Damit nicht genug, Corinna musste miterleben, dass der Täter nicht als Mörder verurteilt wurde, sondern mit einer milden Strafe davonkam. Als knapp 20 Jahre später auch ihr Sohn ermordet wird, will sie kein weiteres Mal Ungerechtigkeit erleben müssen. Sie wartet das Urteil – Petersens Urteil – nicht ab, sondern erschießt den Mörder ihres Sohnes im Gerichtssaal…

„Die Wahrheit der Dinge“ hat mich von der ersten Seite an fest im Griff gehabt. Der Roman über Vorurteile, Fremdenhass und Selbstjustiz wird mitreißend erzählt und besticht durch die gekonnte Verknüpfung von Realität und Fiktion. Markus Thiele hat sich von zwei wahren Rechtsfällen inspirieren lassen: dem Fall Marianne Bachmeier - Bachmeier beging 1981 Selbstjustiz und erschoss im Lübecker Landgericht den mutmaßlichen Mörder ihrer Tochter - sowie dem Fall Amadeu Antonio Kiowa - Kiowa wurde im Dezember 1990 in Eberswalde von einem rechten Mob brutal ermordet.

Markus Thiele beginnt diesen Roman mit einem kurzen Prolog – dem Tag, als Corinna Maier in Petersens Gerichtssaal zur Waffe greift. Im Folgenden gibt es zwei Handlungsstränge – zum einen Petersen, sein rotierendes Gedankenkarussell und die Aufarbeitung seines Traumas und zum anderen die Erlebnisse der Medizinstudentin Corinna Maier von ihrer ersten Begegnung mit dem Gastdoktoranden Steve Otremba aus Pretoria im Jahr 1989 bis zu ihrer Haftentlassung 2015.

Der Part, in dem Corinna Maiers Geschichte erzählt wird, hat mich besonders berührt. Ihre Trauer und ihre Wut waren für mich greifbar. Natürlich darf Selbstjustiz nicht sein – keine Frage! Dennoch konnte ich ein Stück weit Verständnis für sie aufbringen und nachvollziehen, warum sie kein Vertrauen in die Justiz hatte und es aus ihrer Sicht keinen anderen Weg gab.

Markus Thiele zwingt den passionierten Strafrichter zum Grübeln über Schuld, Recht und Gerechtigkeit und lässt ihn reflektieren, welchen Stellenwert die Menschlichkeit bei aller Sachlichkeit hat, und ob es hinsichtlich einer Straftat wirklich immer nur die eine unumstößliche Wahrheit gibt oder ob Wahrheit nicht doch eine Frage der Perspektive ist. Gleichzeitig lädt der Autor auch den Leser ein, über diese Dinge nachzudenken und sich ein eigenes Bild zu machen.

„Die Wahrheit der Dinge“ hat mir sehr gut gefallen – ein tiefgründiger Roman, der dem Leser einen Blick hinter die Kulissen des Richteramtes gewährt und zudem die Grauzonen unseres Rechtssystems beleuchtet.