Ist Wahrheit eine feste Größe?

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klusi Avatar

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Man erlebt die Geschichte aus zwei Blickwinkeln. Da ist einmal die Sicht des Strafrichters Petersen, dessen Ehe gerade in einer Krise steckt. Seine Frau wirft ihm vor, selbstherrlich zu sein und sich von Vorurteilen leiten zu lassen. Hier spricht sie auf eine aktuelle Angelegenheit an, in der Petersens Rechtsspruch umstritten war. Ihrer Meinung nach hätte er den Fall wegen Befangenheit ablehnen können, denn die Tochter des Angeklagten ist mit seinem Sohn befreundet. Britta braucht Abstand und hat das gemeinsame Haus zusammen mit dem Sohn verlassen. Petersen versucht, sich abzulenken, indem er das Haus renoviert. Aber er kommt immer wieder ins Grübeln. Hat Britta recht mit ihren Vorwürfen? Kann sie deshalb nicht mehr mit ihm leben? Petersen selbst hält sich für gerecht und objektiv. Aber neben seinen privaten Problemen beschäftigt ihn noch etwas anderes. Seine Gedanken wandern immer wieder zu Corinna Maier. Sie wurde verurteilt, weil sie vor Jahren im Gerichtssaal den rechtsextremen Mörder ihres Sohnes erschossen hat, bevor Petersen sein Urteil verkünden konnte. Nun erfährt er, dass sie entlassen werden soll. Er hat das dringende Bedürfnis, mit ihr zu reden und ihr ein paar Fragen nach dem Warum zu stellen. Wobei wir auch bei der zweiten Person sind, aus deren Sicht quasi die andere Seite der Geschichte erzählt wird. Was Corinna erlebt hat, ist grausam. Zwei mal in ihrem Leben hat sie das Liebste verloren. Nach dem Mord an ihrem Sohn zweifelt sie an der Gerechtigkeit und übt Selbstjustiz. Die daraus resultierende Schuld verbüßt sie im Frauengefängnis.

Der Autor hat seinem Roman zwei wahre Kriminalfälle zugrunde gelegt. Es handelt sich um den Fall Marianne Bachmeier, die 1981 den mutmaßlichen Mörder ihrer Tochter erschoss und um das Schicksal von Amadeu Antonio Kiowa, der 1990 das Opfer rechtsextremer Gewalt wurde und dabei sein Leben verlor. Das Urteil für die Täter fiel eher mild aus und war damals umstritten. Der Tathergang, der zum Tod von Amadeu Antonio Kiowa führte, wurde im Roman sehr authentisch auf das Schicksal des jungen Gastdoktoranden Steve übertragen und den Lesern die Wahrheit damit brutal vor Augen geführt. Es wurde damals Recht gesprochen, aber hat das Opfer wirklich Gerechtigkeit erfahren?

Bis er Corinna Maier trifft, ertappt man Petersen immer mal wieder bei kleinen Fällen von Alltagsrassismus. Auch ihm selbst wird das bewusst, und er geht ausnahmsweise einmal mit sich selbst ins Gericht.

Er muss erkennen, dass die Wahrheit meist mehrere Gesichter hat und dass zwischen Recht und Gerechtigkeit nur ein schmaler Grat verläuft, von dem man nur allzu leicht abgleitet und auf einer Seite landet, die andere Seite dabei aber dann völlig außer Acht lässt.

Mich hat dieser Roman mitgerissen und erschüttert, vor allem weil klar war, dass vieles nicht fiktiv ist sondern ganz ähnlich wirklich passiert ist. Die Handlung ist nur allzu realistisch, brisant und leider auch aktuell. Es ist ein Buch, das nachdenklich macht und berührt, denn ähnliche wie die geschilderten Ereignisse passieren auch heute noch immer wieder; es sind keine Einzelfälle. Ein Richter urteilt sachlich und entsprechend der Gesetze und Paragraphen. Aber was ist mit dem Leid der Opfer und ihrer Angehörigen? Kann man ihnen wirklich gerecht werden? Für mich hat dieser Roman Fragen aufgeworfen, die mich sicher noch lange beschäftigen.

Der Titel des Romans wurde übrigens schon im Cover sehr gut und ausdrucksstark umgesetzt. Das schwarz-weiße Foto der Möwen am Strand vom Schutzumschlag findet sich auf dem direkten Einband des Buches im Negativ wieder und hat damit für mich eine besondere Aussagekraft.