Intensiver und z.T. schmerzhafter Roman

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Vigdis Hjorth zählt zu den wichtigsten Autorinnen der norwegischen Gegenwartsliteratur. Dieser schon 2020 , im Original unter dem Titel „ Er mor dod“ - „ Ist Mutter tot“, erschienene Roman war nominiert für den International Booker Prize“.
Die Ich- Erzählerin Johanna kehrt als erfolgreiche Malerin nach dreißig Jahren in ihre Heimat Norwegen zurück, um eine Ausstellung ihrer Werke mitzugestalten. Ihr amerikanischer Ehemann, für den sie damals ihren Mann und ihre Familie verlassen hat, ist gestorben. Der erwachsene Sohn ist selbst schon Vater und lebt in Dänemark.
Für ihre Eltern war ihre Flucht damals ein Schock und als Johanna nicht einmal zur Beerdigung ihres Vaters nach Hause kam, hat die Familie endgültig mit ihr gebrochen.
Nun versucht sie Kontakt zu ihrer Mutter aufzunehmen. Sie wünscht sich eine Aussprache und vielleicht sogar eine Aussöhnung. Doch die Mutter geht nicht ans Telefon, reagiert auch nicht auf ihre Mail- Anfragen. Auch ihre jüngere Schwester, die sich ständig um die betagte Mutter kümmert, will nichts von ihr wissen.
Johanna zieht sich in die Einsamkeit einer Hütte am Fjord zurück, um Klarheit zu finden.
Ihre Gedanken führen sie in die Vergangenheit . Schon vor ihrem Weggang war das Verhältnis getrübt. Johanna fühlte sich unverstanden, nicht angenommen. Der Vater hatte für die ersten künstlerischen Versuche seiner Tochter nur Spott übrig und die Mutter, die zuvor noch stolz war auf die Bilder, schließt sich der Meinung des Vaters an. Das für sie vorgesehene bürgerliche Leben als Juristin und Ehefrau war nicht das, was sich Johanna vorgestellt hat. Johanna musste gehen, um ihren eigenen Weg zu finden. Doch das hat ihre Familie nicht verstanden. Die beiden von Johanna geschaffenen Gemälde über eine Mutter mit Kind empfanden sie als persönlichen Angriff, als Beleidigung, nicht als künstlerische Auseinandersetzung mit dem Thema Mutterschaft.
Neben den Erinnerungen kreisen Johannas Gedanken um ihre Mutter. Wie war sie damals, war sie glücklich? Und was ist sie heute für eine Frau? Da sie so lange keinen Kontakt zu ihr hatte, ist sie „ zu einem fremden Land geworden“. Sie muss sie neu für sich erfinden. „ Mutter, ich erdichte dich mit Wörtern, um ein Bild von dir zu haben.“
Johannas Wunsch einer Begegnung mit der Mutter wird immer obsessiver. Sie wartet stundenlang im Auto vor deren Wohnung, geht ihr hinterher, schreckt aber vor einem persönlichen Kontakt zurück. Sie erfindet sich den Alltag der Mutter, imaginiert ein Wiedersehen mit ihr.
Das ist zum Teil beklemmend zu lesen, manches ermüdend, weil sich die Gedanken und Handlungen, die wir detailliert miterleben, im Kreis drehen. Allerdings ist genau dieses gleichzeitig sehr glaubhaft und psychologisch stimmig.
Der Roman ist voll mit grundsätzlichen Überlegungen zu Mutterschaft und familiären Beziehungen. „ Wenn man wüsste, wenn man in jungen Jahren verstünde, wie entscheidend die Kindheit ist, würde man niemals wagen, selbst Kinder zu bekommen.“ heißt es im Text.
Auch Bezüge zur Literatur ( Ibsen ) und zur Bibel ( Heimkehr des verlorenen Sohnes ) lassen sich finden. Und Fragen nach dem Recht des Künstlers auf seine freie Gestaltung, ohne Rücksicht auf familiäre Bindungen, werden angesprochen. Diese Reflexionen geben dem Roman zusätzliche Tiefe.
Die Sprache ist klar und präzise, poetisch wird der Text, wenn die Autorin die Natur rund um Johannas Rückzugsort beschreibt. Hier finden sich Bilder, die Johannas Seelenleben spiegeln.
„ Die Wahrheiten meiner Mutter“ ist ein intensiver und z.T. schmerzhafter Roman über eine komplizierte Mutter- Tochter- Beziehung, über Familienstrukturen und seelische Verletzungen. Keine angenehme Lektüre, aber eine gewinnbringende.