Psychologisch dicht mit Längen

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alasca Avatar

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Die erfolgreiche Malerin Johanna ist im Alter von 60 Jahren in ihre Heimat Norwegen zurückgekehrt, um eine Retrospektive ihrer Werke zu begleiten. Ihre Herkunftsfamilie hat sie seit 30 Jahren nicht gesehen, seit sie aus ihrer jungen Ehe und der vorgezeichneten Karriere als Juristin ausbrach, um ihrer Liebe in die USA zu folgen und Malerin zu werden. Ihr Mann ist mittlerweile gestorben, ihr Sohn erwachsen und selbst Vater. Johannas Vater starb schon vor langer Zeit; Mutter und Schwester haben den Kontakt abgebrochen, als Johanna nicht zur Beerdigung kam.

Mit ihrer Herkunftsfamilie meint Johanna abgeschlossen zu haben, aber in der Heimat kommen die Erinnerungen zurück – und der Schmerz. Sie fürchtet, dass sie ihre Gefühlslast womöglich an ihren Sohn weitergegeben hat, so wie ihre Mutter die ihre an ihre Töchter. Ihr ist klar: Sie muss mit ihrer Mutter sprechen, um sich von der Last der Vergangenheit zu befreien. Das aber ist schwierig: Weder Mutter noch Schwester reagieren auf Briefe, Anrufe, SMS. Was tun?

Johanna nähert sich zunächst gedanklich und versucht, Gründe für das Verhalten von Mutter und Schwester zu finden. Sie fragt sich, was Eltern ihren Kindern schulden und umgekehrt und kommt zu dem Schluss: „…wenn man in jungen Jahren verstünde, wie entscheidend die Kindheit ist, würde man niemals wagen, selbst Kinder zu bekommen.“ Ihr lebenslanges Thema der emotionalen Entfremdung hat auch Eingang in ihre Kunst gefunden. War es falsch, ihren Zyklus „Mutter und Kind“ in der Heimatstadt auszustellen? Wie frei ist die künstlerische Freiheit? Manche Erkenntnis mutet auch ein wenig trivial an: „… ich begreife, dass auch Mutter eine Kindheit hatte.“ Johanna stellt die eigene Wahrnehmung infrage und hadert mit ihrem Bedürfnis nach Klärung: „Sie hat mich als Kind herausgefordert und besiegt, als Erwachsene habe ich sie herausgefordert und besiegt, und jetzt kann ich aus Trotz oder Verbissenheit das Schlachtfeld nicht verlassen?“ Diese Zerrissenheit Johannas, ihren mentalen Annäherungsprozess an Mutter und Schwester bekommen wir quasi in Echtzeit vermittelt. Die mittleren 100 Seiten hatten für mich deutliche Längen und hätten gern halb so lang sein dürfen.

Nach diesem Durchhänger wird der Roman im letzten Drittel vom Nordic Noir zum Thriller. Die Reise in die Erinnerung hat ein verstörendes Bild wieder hochgeholt – Johanna weiß, dass sie das nicht auf sich beruhen lassen kann. Ihr Verhalten wird immer obsessiver - sie beobachtet die Mutter und ihr Kommen und Gehen, sie folgt ihr unbemerkt bei ihren Besorgungen. Die Natur um eine Hütte in den Bergen bringt ihre innere Ruhe zurück; ein Elch mit schwerem Geweih wird zur Metapher der emotionalen Last. Diese Natursymbolik war für meinen Geschmack ein wenig zu dick aufgetragen. Alles spitzt sich auf die Frage zu: Wann wird Johanna endlich den persönlichen Kontakt wagen?

Fazit: Die Intensität von „Bergljots Familie“ erreicht Hjorths neuer Roman nicht. Aber dennoch ist „Die Wahrheit meiner Mutter“ trotz Schwächen im Mittelteil ein sehr fesselnder, psychologisch dichter Roman um Mütter, Töchter, Lebenslügen und die Weitergabe unverarbeiteter Verletzungen an die nächste Generation.