Von echten Wahrheiten und jenen, die man sehen will!

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Ein farbintensives Cover, welches schon Fragen aufwirft. Eine fensterlose Hauswand im Licht. Die Umgebung in Blautönen gehalten. Vielleicht die blaue Stunde? Ist es in Wahrheit fensterlos oder nur von der einen Seite? Liegt die Wahrheit nicht immer in der Perspektive?
Meine Gedanken gleiten schon ab. Vielleicht, weil mich Vigdis Hjorth mit ihrem Schreibstil so gepackt hat. Sie schickt ihre Protagonistin Johanna fast ohne Requisiten, mit wenig wechselnden Bilder alleine auf die Bühne und der Leser, fast schon Zuschauer, darf teilhaben an Johanna's Gedanken und Gefühlen, der Aufarbeitung ihrer Kindheit und ihrem Werdegang und immer, immer wieder zu dem Moment, als sie Familie (einschließlich Ehemann und Eltern) ohne Abschied spontan verließ.
Ihre Zerrissenheit, Wut, Ohnmacht, Schuldfragen, Ängste, all das macht sie mit sich alleine aus. Sie wiederholt Fragen in nur einem Absatz. Andere Seiten sind nur mit 1-3 Sätzen gefüllt um bewusst das Zeit,-oder Denkkarussell zu unterbrechen.
Erstaunlich, wie es Vigdis Hjorth gelingt, allein die Absicht von Johanna ihre Mutter anzurufen, auf rund 20 Seiten beschreiben kann, ohne langatmig zu wirken.
Diese intensive und teilweise auch drastische Darstellung einer erwachsenen Frau und Mutter, die aber mit ihren Sehnsüchten, Ängsten, Schuldzuweisungen noch tief mit ihrer Kindheit steckt, zieht sich konsequent durch die Geschichte.
Allein in ihrer Hütte im Wald findet sie einen (seelischen) Ruhepol.
Ihr Sohn, ihre Schwester und selbst die Mutter (um die sich doch all ihr Denken und Sehnen dreht) bleiben, bis auf kurze Sequenzen, unnahbar. Nur der Leser kann sie durch Mitgefühl oder Verständnis auch ihre Perspektive einnehmen.
Für mich ein absolutes Lese-Highlight! Zurecht nominiert für den International Booker Prize 2023!