Zwischen Vergangenheit und Gegenwart

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fraedherike Avatar

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„Das erste Lied, das ich jemals hörte, war Mutters Weinen an meiner Wiege.“ (S. 267)

[TW*] Vor dreißig Jahren entschloss Johanna sich, Norwegen zu verlassen. Sie hatte nicht das Gefühl, keine Wahl gehabt zu haben, es war viel mehr der einzige Weg, sich zu befreien: von ihrer Familie, und den Worten und Blicken, die sie ihr junges Leben lang verbrannt haben. Einen Ozean zwischen sich und ihrer Vergangenheit konnte sie in den USA ein neues Leben beginnen: Sie heiratet wieder, bekommt ein Kind, zeigt ihre Bilder in renommierten Ausstellungen. Doch sie bleibt eine Enttäuschung für ihre Familie: Sie kam nicht zurück, als ihr Vater im Sterben lag; als ihr Vater beerdigt wurde; als ihre Familie sie brauchte. Vermeintlich. Am schlimmsten aber wiegt der Verrat, den sie mit ihren Bildern für alle Welt sichtbar gemacht hat. Und eben diese Bilder sollen nun in einer Retrospektive in ihrer Heimat ausgestellt werden.

„Ich zeichne Mutter. Sie schwimmt allein. Vater fischt sie aus dem Meer und lässt sie in ein Goldfischglas fallen. Mutter ist allein im Goldfischglas, sie weiß, dass sie kein Goldfisch ist, und sie hat Angst vor Vaters Reaktion, wenn er es herausfindet. Mutter hat immer Angst. Mutter bringt im Glas eine Tochter zur Welt, auch die ist ein Goldfisch, das findet Vater sofort heraus, warum soll er dieses seltsame, unschöne Wesen füttern, Goldfischfutter ist teuer. Mutter versucht, ihr Kind zu verteidigen. … Mutter gibt sich alle Mühe, einem Goldfisch zu ähneln, es gelingt ihr ziemlich gut, dann stirbt Vater.“ (S. 368)

Seit dreißig Jahren hatte Johanna keinen Kontakt zu ihrer Mutter, lediglich ihre Schwester Ruth schickte ihr kurze, nüchterne Nachrichten, Drei-Wort Sätze. Sie wissen nichts voneinander; wissen nicht von dem Tod ihres Mannes vor einigen Jahren, von ihrem Sohn John, von dem Schmerz, der in ihr brennt. Und sie wissen nicht, dass sie wieder in Norwegen ist. Johanna sucht die Nähe ihrer Mutter, ruft sie an – und wird weggedrückt. Ein ums andere Mal. Die Kälte lässt Erinnerungen an ihre Kindheit zutage treten, all die Bilder, die sie so lange verdrängt hatte. Kurzum beginnt sie ihre Mutter zu beschatten, um ihr nur einmal in die Augen blicken zu können. Denn sie möchte verstehen: was damals war, was heute ist. Und wer sie in Zukunft sein kann.
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"Wir alle teilen das Menschsein, wir alle teilen seine Bedingungen. Wir alle sind verloren in einer Existenz, die keinen Sinn und keine Bedeutung hat, egal, wie viel Mühe wir uns geben, wir entgehen nie der Unsicherheit, den drohenden Gefahren, den Krankheiten, die kommen werden, den Verlusten und der Trauer, die auf uns warten, dem verlorenen Kind, dem Bruder oder der Schwester, der Vergangenheit, die plötzlich zurückkehrt und an die Tür klopft." (S. 297)
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Rau ist ihre Sprache, wie kalter Wind in den nordischen Fjorden, rau und schwer, aber doch seltsam schwebend, poetisch und bildgewaltig. Ihr fehlt der Halt, Johanna, dem verlorenen Kind, nun sechzig Jahre alt, das in die Traufe zurückkehrt. Einfach war es nicht, sie kennenzulernen, den Menschen hinter den distanzierten Worten und Gedanken, die Vidgis Hjorth der Protagonistin ihres Romans „Die Wahrheiten meiner Mutter" in den Mund legt, den Fragmenten eines eingebrannten Lebens. Doch je mehr sie sich öffnet, je mehr die Vergangenheit sie übermannt, sie Gefühltes, Erlebtes, Gesehenes im Schutze ihres Hauses im Wald offenbart, desto schneller schlug mein Herz, stärker wurde der Druck meiner Hände um das Buch.
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In lakonischen Szenen und großräumigem, atmendem Schriftsatz weben sich Gedankenfragmente und Erinnerungen an ihre Kindheit und Jugend, das Leben mit Mutter und Vater, die Strenge und Demütigung, die sie erlebte, die Restriktion ihrer frühen Fantasterei in die Gegenwart. Es ist eine Suche nach dem Kern ihrer Mutter-Tochter-Beziehung, nach den Gründen für das Verhalten ihrer Mutter – damals wie heute –, eine Suche nach Liebe und Anerkennung, wo nur Kälte, ein teilnahmsloser Blick waren: regretted motherhood. Und heute: Angst. Es grenzte schon ans Absurde, einer sechzigjährigen Frau bei der Beschattung ihrer fünfundachtzigjährigen Mutter beizuwohnen, wie sie mutiger wird, sich immer näher an sie heran wagt, beobachtet, überlegt, reflektiert - und auch die Rolle von Johannas Schwester Ruth in dem Ganzen Katz-und-Maus-Spiel. Hjorth spielt mit Sympathien, der Umkehr von Täterin und Opfer, doch fragt man sich, ob sie an einem Punkt nicht beide dem Patriarchat zum Opfer fielen. Auf die eine oder andere Art.
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Je näher sie einander kommen, desto gespannter wird die Atmosphäre, Johannes Gedanken knapper, konzentrierter, die Reflexion ihrer Mutterrolle präsenter. Bis es zum großen Knall kommt. Bis zur letzten Seite hat mich die Geschichte ungemein gefesselt, der raue Ton bisweilen einem poetischen, gar melancholischen, von Traurigkeit und Ernüchterung verzerrten gewichen; Worten und Bildern, die im Kopf bleiben. Ein beeindruckender, zutiefst bewegender und nachdenklich stimmender Roman, der nach lange nachwirkt.