Emanzipation durch Überleben

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Lauren Groff vermag es wie keine andere Autorin in vermeintlich historischen Romanen die Rolle und auch die nach wie vor prekäre Stellung von Frauen weltweit zu sezieren. Schon ihr vorheriger Roman Matrix über die Nonne Marie de France, die ein mittelalterliches, feministisches Utopia schafft, das ständig von Zerstörung bedroht ist, zeigte dies eindrucksvoll.

In ihrem neuen Roman Die weite Wildnis folgen wir Lamentatio Venal (welch demütigender Name), die im England des frühen 17. Jahrhunderts als vermeintliches „Hurenkind“ in einem brutalen Waisenhaus aufwächst und schließlich als Kindermagd in reichem Hause landet. Die Lady nennt sie nach ihrem kürzlich verstorbenen Haustier, einem Zwergaffen, und ungefähr so viel ist ihr Leben als Leibeigene auch wert.

Als ihre Herrschaften beschließen an der Kolonisierung Virginias teilzunehmen, muss sie mit ihnen den Atlantik überqueren und findet sich bald in elenden Verhältnissen wieder, als die Siedlung an Hunger und Seuchen zu Grunde zu gehen droht. Als sie ein scheußliches Unrecht beobachtet, begeht sie eine folgenschwere Tat und flieht in die Wildnis der Wälder Nordamerikas.

Die folgende Selbstbefreiung und Selbstermächtigung dieses Mädchens macht diesen Roman für mich zu einem der stärksten Bücher diesen Jahres. Auf ihre unnachahmliche Weise schafft es Groff mit ihrer distanzierten Sprache (nur indirekte Rede, keine direkten Dialoge) eindrucksvoll das Leid einer Frau in einer Welt zu schildern, die von sexualisierter Gewalt, Ausbeutung, Verelendung und Rassismus geprägt ist. Damit schreibt sie einen Roman, wie er gegenwärtiger nicht sein könnte.

Und auch eine anderer Aspekt in diesem Buch erwischt einen eiskalt: Die große Gefahr geht hier von Menschen aus, nicht von einer (zugegebenermaßen) unwirtlichen, winterlichen Landschaft voller Bären und Wölfe.

Ein überzeugender Roman, der nicht nur wegen seiner Unerbittlichkeit und der sprachlichen Qualität lange nachhallt und in dem Freiheit am Ende vielleicht Freisein (Unabhängigkeit) von anderen Menschen bedeutet.